Lippische Landes-Zeitung: Nachrichten aus Lippe, OWL und der Welt

Bad Salzuflen

Aufarbeitung der Kinderverschickung: Eine Stimme und Hilfe für die Opfer

Bad Salzuflen/Issum. Detlef Lichtrauter weiß, wovon er spricht: 1973 wurde er als Zwölfjähriger für sechs Wochen ins Kindersanatorium „Haus Bernward" nach Bonn-Oberkassel verschickt. Er erzählt von einer permanenten Atmosphäre der Angst, von Essenszwang, Gewalt, Medikamentenmissbrauch. Heute ist Lichtrauter Vorsitzender des neu gegründeten Vereins „Aufarbeitung Kinderverschickung NRW", der Opfern – wie er auch selbst eines war – eine Stimme geben will.

Herr Lichtrauter, die Kinderverschickungen liegen Jahrzehnte zurück. Warum kommt das Thema jetzt auf den Tisch?

Detlef Lichtrauter: Mit einem Artikel über ihre eigene Verschickung und die schrecklichen Erfahrungen hat Anja Röhl im August 2019 quasi eine Lawine losgetreten, die Resonanz darauf war überwältigend. So entstand die Idee, das Ganze aufzuarbeiten und die „Initiative Verschickungskinder" zu gründen.

Das Thema war also eigentlich schon immer da...

Lichtrauter: Viele Betroffene waren über Jahrzehnte traumatisiert. Sie haben sich teilweise nicht einmal getraut, das Thema innerfamiliär anzuschneiden. Und wenn sie es doch getan haben, ernteten sie oft Unverständnis. Jeder hat also versucht, das Ganze mit sich selbst auszumachen. Erst durch die Gründung der Initiative entstand eine Art Schneeball-Effekt – und die Menschen sind so dankbar dafür, auch nach so vielen Jahren.

Wie wichtig ist es für die Betroffenen, dass das Thema jetzt noch aufgearbeitet wird?

Lichtrauter: Sehr wichtig für jeden Einzelnen, auch wenn es natürlich nicht immer einfach ist, mit den alten Vorkommnissen konfrontiert zu werden. Ich denke nicht, dass man mit dem Erlebten jemals abschließen kann. Aber es ist wichtig, dass die Betroffenen von den heute in der Verantwortung stehenden Personen der Trägerorganisationen zumindest eine Entschuldigung und eine Anerkennung ihres Leids erfahren.

Wo stehen Sie aktuell in der Aufarbeitung?

Lichtrauter: Wir haben volle Rückendeckung von der Landespolitik. Im November 2021 wurde die Aufarbeitung dort einstimmig beschlossen. Flankierend dazu hat unser Verein „Aufarbeitung Kinderverschickung NRW" einen Projektförderantrag gestellt, der hoffentlich zeitnah von der Bezirksregierung Düsseldorf bewilligt wird.

Wie geht es danach weiter?

Lichtrauter: Mit der Bewilligung steht die Finanzierung für ein vierjähriges Projekt. Wir haben dann die Möglichkeit, Historiker zu beauftragen, um in die Archive zu gehen und werden uns wissenschaftliche Unterstützung holen, Universitäten ansprechen. Zudem werden wir als Verein Gelder für öffentliche Veranstaltungen haben, um mehr Betroffene anzusprechen und die Allgemeinheit stärker für das Thema zu sensibilisieren. Aktuell konzipieren wir mit einer Arbeitsgruppe des Ministeriums für Arbeit, Gesundheit und Soziales die Zusammensetzung eines Runden Tisches.

Der soll in NRW spätestens im Sommer seine Arbeit aufnehmen. Wer wird mit am Tisch sitzen?

Lichtrauter: Unter anderem Vertreter von weltlichen und kirchlichen Trägerorganisationen, von Sozialversicherungsträgern, kommunalen Spitzenverbänden, der Landesärztekammer und von Archiven. Wir möchten den heute in der Verantwortung Stehenden anbieten, sich aktiv an der Aufarbeitung zu beteiligen, indem sie unter anderem vorbehaltlos ihre Archive öffnen und gemeinsam mit uns Betroffenen das noch vorhandene Material sichten und auswerten.

Wie groß ist die Bereitschaft bei den Trägern, Sie bei der Aufarbeitung zu unterstützen?

Lichtrauter: Die Bereitschaft ist da, aber manche Träger sind noch ein wenig zögerlich. Sie haben Sorge, dass etwas aufgedeckt wird, was unter Umständen rufschädigend sein könnte. Tendenziell steigt aber der Wille zur Aufarbeitung.

Gut zwei Millionen Kinder sind in ganz NRW verschickt worden, allein hier gab es nach jetzigem Stand 144 Heime. Welche Rolle spielte Bad Salzuflen?

Lichtrauter: Da kann ich wegen der relativ dünnen Aktenlage nur spekulieren. Aufgrund der Zahlen, die uns vorliegen, kann man aber schon sagen, dass Bad Salzuflen mit Bad Sassendorf vergleichbar ist und innerhalb von NRW ein Hotspot der Kinderverschickung war.

In Bad Salzuflen gab es große Heime, in denen hunderte Kinder untergebracht waren, und dann noch private, kleinere Heime. Gab es da große Unterschiede?

Lichtrauter: Mit einer Pauschalisierung tue ich mich da schwer, denn zu dem Thema stehen wir aktuell noch ganz am Anfang unserer Recherche. Wir können aber schon sagen, dass in den großen Häusern, die kostendeckend arbeiten wollten, die Gruppen größer waren und der Betreuungsschlüssel ein anderer war – das ist auch belegt.

War man daher mit der Betreuung der Kinder schlichtweg überfordert?

Lichtrauter: Die Betreuerinnen waren größtenteils ungelernt, oft Hilfskräfte. Und die waren natürlich mit einer Gruppengröße von 20 bis 25 Kindern heillos überfordert. Da war dann auch ein gängiges Prinzip, die Kinder von der ersten Sekunde an massiv unter Druck zu setzen, um sie möglichst dauerhaft gefügig zu machen. Solch große Gruppen gab es in kleineren Häusern nicht. Was aber nicht ausschließt, dass es auch hier herrische Betreiber gab.

Ehemalige Verschickungskinder berichten als Langzeitfolgen ihrer Verschickung von Ess-, Angst- und Sozialstörungen, viele sind seelisch belastet. Wie können Sie als Verein konkret helfen?

Lichtrauter: Nicht wenige tragen diese Traumata seit Jahrzehnten mit sich herum. Eines unserer Ziele ist es, niedrigschwellige Therapieangebote durchzusetzen und zu erreichen, dass die Betroffenen jetzt schnell Hilfe bekommen, um ihre Traumata auch im Alter noch zu verarbeiten. Dafür möchten wir auch eine Liste geeigneter Therapeuten erstellen. Und in ganz NRW ein Netzwerk von Selbsthilfegruppen aufbauen. Einige gibt es schon, in OWL zum Beispiel in Versmold, weitere in Köln, Wuppertal, Münster und Dorsten.

Ihr Blick geht aber auch in die Zukunft...

Lichtrauter: Wir denken nicht nur rückwärtsgewandt: Wir möchten Verantwortlichkeiten aufdecken und damit ein Signal an die Zukunft geben. Denn wir wollen verhindern, dass es noch einmal zu einer solchen Form institutionalisierter Gewalt kommt.

Auf die bisherige Berichterstattung haben uns Nachrichten erreicht, dass man dem Thema viel zu viel Raum gebe und es doch nicht allen Verschickungskindern so schlecht gegangen sei. Hängen Sie das Thema zu hoch?

Lichtrauter: Uns ist durchaus bewusst, dass es auch positiv verlaufene Verschickungen gab. Bei den uns bisher vorliegenden gut 6000 Berichten von Betroffenen sind jedoch mehr als 90 Prozent eindeutig negativ konnotiert. Wir überdramatisieren und pauschalisieren an keiner Stelle. Aber verständlicherweise heben wir nicht das Positive hervor, denn wir sind Opfer verschiedenster Gewalt und kümmern uns entsprechend um die Opfer. Wir sind angetreten, um den Opfern eine Stimme zu geben.

Fakt ist: In den 1950er und 60er Jahren herrschten andere und teils krudere Erziehungsmethoden als heute. Lassen Sie dieses Argument als Begründung für die Methoden in manchen Heimen gelten?

Lichtrauter: Das ist ein Totschlagargument von all denjenigen, die abwiegeln wollen. Wir wissen, dass in dieser Zeit die Erziehungsmethoden andere waren, in vielen Familien wurde zum Beispiel geschlagen. Was viele von uns erlebt haben, geht aber weit darüber hinaus. Wir reden von Misshandlungen, die auch damals schon den Tatbestand einer Straftat erfüllt haben. Von daher zieht dieses Argument überhaupt nicht.

Wie profitieren Sie persönlich von der Aufarbeitung der Geschehnisse?

Lichtrauter: Ich stelle meine persönliche Geschichte momentan eigentlich komplett hinten an, habe sie ein wenig verdrängt. Im Zuge der ehrenamtlichen Arbeit habe ich aber wohl übermäßigen Respekt vor Autoritäten weitestgehend ablegen können, was ich durchaus als positive Erfahrung verbuche.

Persönlich

Detlef Lichtrauter ist 60 Jahre alt, Musiklehrer und lebt in Issum am Niederrhein. Er ist verheiratet und hat zwei Kinder. 1973 ist er als damals Zwölfjähriger nach Bonn-Oberkassel ins „Haus Bernward" verschickt worden.

Detlef Lichtrauter. - © Detlef Lichtrauter
Detlef Lichtrauter. (© Detlef Lichtrauter)

Seit September 2020 ist er NRW-Landeskoordinator der „Initiative Verschickungskinder". Seit Januar 2021 gibt es den Verein „Aufarbeitung Kinderverschickung NRW", dessen Vorsitzender Detlef Lichtrauter von Anfang an ist.

Der Verein zählt aktuell 100 Mitglieder. Lichtrauter ist unter Tel. (0163) 1328215 oder per Mail an info@akv-nrw.de zu erreichen.

Copyright © Lippische Landes-Zeitung 2025
Inhalte von lz.de sind urheberrechtlich geschützt.
Weiterverwendung nur mit Genehmigung der Chefredaktion.