Oerlinghausen. Es ist der Abend des 2. Juli 1900 – Schützenfestmontag in Oerlinghausen. Ein furchtbares Gewitter entlädt sich über dem Festplatz, der heftige Platzregen setzt alles unter Wasser: die nagelneue Restaurationshalle, die gerade eröffnete Küche, die neue Acetylen-Beleuchtung. So beschreibt es die Chronik der Schützengesellschaft. Doch Hermann Niebuhr, der neue Schützenkönig und seine 25-jährige Mitregentin, Auguste Bracht, halten bis zum Schluss aus, auch wenn Augustes selbstgenähtes Festkleid total durchnässt ist.
Die Schützenkönigin hat offenbar Stehvermögen und ein ausgeprägtes Selbstbewusstsein. Denn als Wäschenäherin zählt sie ja nicht unbedingt zur gehobenen bürgerlichen Schicht, in der die Oerlinghauser Schützengesellschaft zu Hause ist. Auch an Politik ist Auguste Bracht stark interessiert. Selbst wenn den Frauen damals im Kaiserreich noch keine aktive politische Betätigung erlaubt ist, so hat sich Auguste Bracht schon im sozialdemokratischen Arbeiter-Wahlverein einen Namen in Oerlinghausen gemacht. Und was in der Schützengesellschaft und in der ganzen Dorfgemeinde zu diesem Zeitpunkt noch niemand ahnt: Auguste Bracht zieht 19 Jahre später als erste weibliche Abgeordnete in das Parlament des Freistaates Lippe ein.
In bescheidenen Verhältnissen wird Auguste Bracht am 17. Juli 1875 geboren. Ihr Vater August Bracht ist Ziegler, der während der Sommermonate in zumeist norddeutschen Ziegeleien das Geld für die Familie verdient. In den Wintermonaten bessert er das Einkommen durch Zigarrensortieren in den „Tabakbuden" ein wenig auf. August Bracht gilt als ein Sozialdemokrat der ersten Stunde, der mit dabei ist, als Carl Becker 1889 den Arbeiter-Wahlverein in Oerlinghausen gründet. (Carl Becker ist übrigens der Ururgroßvater des heutigen Bürgermeisters Dirk Becker).
Nach der Volksschule erlernt Auguste Bracht den Beruf der Näherin, so wie viele andere junge Mädchen in Oerlinghausen, denn die Gemeinde gilt als eine Hochburg der Wäscheindustrie. Ihr Arbeitgeber ist die Firma Benkelberg an der Detmolder Chaussee 16. Das stattliche Geschäftshaus gehört dem Leinenkaufmann Heinrich Benkelberg, der im Jahre 1860 das große Anwesen errichten ließ. Er beschäftigt einige Näherinnen und Büglerinnen im hinteren Teil des Wohn- und Geschäftshauses. Viele Oerlinghauser Hausnäherinnen produzieren ebenfalls für ihn. Und er besitzt einen Stamm von guten Handelsvertretern, die die Aufträge für Oberhemden, Bettwäsche und Nachthemden hereinholen. Später wird der Näh- und Versandbetrieb von Georg Settemeyer übernommen, der das kleine, aber feine Unternehmen bis 1935 führt.
Wäschenäherin für Heinrich Benkelberg
Auguste Bracht arbeitet als Haus-Wäschenäherin für Heinrich Benkelberg. Das heißt, sie näht die Wäscheteile an ihrer Nähmaschine in der eigenen Wohnung und liefert die fertigen Hemden oder Nachthemden dann zu Benkelberg. Doch im Gegensatz zu ihren Altersgenossinnen strebt sie kein Leben als Hausfrau und Mutter an, sondern engagiert sich auf politischem und gesellschaftlichem Gebiet – vor allem für die vielen Kolleginnen an den Nähmaschinen, die in Lohnarbeit für die Textilunternehmen schuften. Als sich die ersten gewerkschaftlichen Tendenzen zeigen, ist Auguste Bracht mit dabei. Im Vorstand des Wäschearbeiterinnenverbandes ernennt man sie zur Kassenwartin.
Der Erste Weltkrieg von 1914 bis 1918 schränkt das politische Leben in ganz Deutschland ein, auch Auguste Brachts Arbeitgeber Benkelberg muss nun Aufträge der Armee erfüllen und Textilien für die Kriegswirtschaft liefern. Doch mit dem Ende des Krieges im November 1918 und der Abdankung des lippischen Regenten Fürst Leopold IV beginnt die Demokratiebewegung wieder im Land Lippe. Nun endlich können sich auch Auguste Bracht und ihr Vater öffentlich zur Sozialdemokratie bekennen. Die Oerlinghauser drängen Auguste Bracht, sich für den neuen lippischen Landtag aufstellen zu lassen. Erstmals nämlich dürfen Frauen im Deutschen Reich nicht nur wählen, sondern auch gewählt werden.
Der Januar 1919 bringt die Entscheidung: In einem politischen Erdrutsch siegt die SPD bei den ersten Wahlen im neuen Freistaat Lippe. Über die Hälfte der Stimmen entfallen auf die Sozialdemokraten, auch Auguste Bracht wird in den Landtag gewählt, als erste Frau unter 21 Abgeordneten. Ihr Interessengebiet ist von vornherein klar. Als Vorsitzende des Wäschearbeiterinnenverbandes setzt sie sich vor allem für die Belange berufstätiger Frauen ein.
Außerdem arbeitet sie im Landtag mit an dem großen Thema der Nachkriegszeit, der „Demobilmachung". Denn in Deutschland steht man in jenen Tagen vor der großen Herausforderung, den sechs Millionen rückkehrenden Soldaten wieder einen Arbeitsplatz zu geben. Auguste Bracht sagt dazu: „Man darf trotzdem den Frauen, da wo sie auf Erwerb angewiesen sind, den Arbeitsplatz nicht nehmen, da sie sonst großen sittlichen Gefahren entgegengehen." Allerdings zeigt sie in der beginnenden Weimarer Republik eine doch konservative Einstellung und sieht die Rolle der Frau in der Familie und in der Kindererziehung. Zur zweiten Legislaturperiode, die schon im Jahre 1921 beginnt, lässt sich Auguste Bracht nicht mehr aufstellen. Offenbar bilden die Verkehrsverbindungen zwischen Oerlinghausen und Detmold in jenen Jahren noch ein großes Problem: Der Landtag in Detmold ist für sie nur schwer zu erreichen.
Auguste Bracht bleibt unverheiratet und lebt bei ihrem Vater, den sie bis zu seinem Tode im Jahr 1927 versorgt. Sie selbst wohnt dann an der Holter Straße 30. Ende Mai 1939 stirbt Auguste Bracht an einer Krebserkrankung in einem Bielefelder Krankenhaus.