Detmold. Einen Nazi-Jäger, der daran mitwirkte, John Demjanjuk, Oskar Gröning und jetzt auch Reinhold Hanning vor Gericht zu bringen, stellt man sich anders vor. Thomas Walther, 1943 in Erfurt geboren und seit Langem im Allgäu zu Hause, wirkt mit seinen grauen langen Haaren und den Augen, die freundlich lächeln, eher wie ein verständnisvoller Richter als ein knallharter Ermittler. Genau dieser Richter war er auch viele Jahre – in Memmingen, Kempten, Sonthofen und Lindau verurteilte er Drogendealer und Diskoschläger. Bis er 2006, kurz vor seiner Pensionierung, noch einmal etwas ganz Neues machen wollte. Walther, Vater von vier Kindern, hatte keine besonderen historischen Kenntnisse über den Holocaust. Sein Vater, erzählt er, habe zwar viel mit ihm über dieses dunkelste aller deutschen Kapitel gesprochen. Aber dass Walther mit 63 Jahren ausgerechnet noch einen Neustart als Ermittler der Zentralstelle zur Aufklärung von NS-Verbrechen in Ludwigsburg wagte, war eher Zufall: „Es sollte einfach etwas sein, dass mir Freude bereitete." Doch zunächst einmal wurde der langgediente Richter auf den Boden der damals geltenden juristischen Tatsachen zurückgeholt. Während Walther erwartungsvoll an die Liste der zehn meistgesuchten Nazi-Verbrecher dachte, empfing ihn der Behördenleiter mit dem Hinweis: „Denken Sie nicht, dass Sie hier noch ein Verfahren anstoßen können, das von einer Staatsanwaltschaft zugelassen wird." Mehr als 60 Jahre nach Kriegsende lebende Nazi-Verbrecher ausfindig zu machen und ihnen eine unmittelbare Tatbeteiligung nachzuweisen, schien unmöglich. Walthers Ermittlungen beschränkten sich auf eher nebulöse Begebenheiten, auf Erschießungen oder Vernichtungsaktionen, an denen bestimmte Einheiten von SS oder Wehrmacht beteiligt waren. Doch Überlebende, die auch ihre Waffen unmittelbar eingesetzt hatten, ließen sich nicht finden. Durch einen Zufall stieß er 2008 auf den SS-Wachmann John Demjanjuk, der in den USA wegen seiner Tatbeteiligung von 1943 im Vernichtungslager Sobibor ausgewiesen werden sollte. „Das war sensationell. Endlich hatten wir mal einen Namen für die Ermittlungen", erinnert er sich. „Dann machen Sie mal", habe sein Chef gesagt. Walther wühlte sich durch Archive. Er entwickelte die Theorie von dem Vernichtungslager Sobibor als Tötungsfabrik. Das überzeugte die Münchner Staatsanwaltschaft und schlussendlich auch das Münchner Landgericht. Demjanjuk wurde in erster Instanz wegen Beihilfe zum Mord verurteilt. „Demjanjuk war nur der Weg, nicht das Ziel. Mein Ziel waren die in Deutschland noch lebenden SS-Leute", sagt Walther. Menschen wie Oskar Gröning und Reinhold Hanning, beide Angehörige des SS-Totenkopfsturmbanns im Vernichtungslager Auschwitz, die sich vor allem dank Walther 2015 und 2016 vor deutschen Gerichten wegen ihrer Tatbeteiligung verantworten mussten. Als Walther 2009 die Altersgrenze erreichte und in Ludwigsburg ausschied, entschied er sich, fortan als Anwalt der Opfer für eine Verurteilung der noch lebenden SS-Schergen zu kämpfen. Er machte weltweit Holocaust-Überlebende ausfindig, reiste in die USA, nach Kanada, Ungarn und viele andere Länder. Zu den meisten seiner jüdischen Mandanten baute er ein großes Vertrauensverhältnis auf, führte intensive Gespräche und hält auch nach Ende des Detmolder Auschwitz-Prozesses den Kontakt. Es sind Menschen wie Hedy Bohm und Bill Glied, beide weit über 80, für die Walther mehr ist als nur ihr Anwalt. Er ist es, der ihr Leben verändert hat, ein Heilsbringer. Die beiden Holocaust-Überlebenden aus Toronto, zwei von 26 Nebenklägern, die Walther im Detmolder Auschwitz-Prozess vertreten hat, sprechen von ihrem „Freund Thomas". Bill Glied holt ein liebevoll verpacktes Abschiedsgeschenk hervor und überreicht es strahlend: Ein großes gerahmtes Bild, das Bill Glied und Thomas Walther bei einem Gespräch in Toronto zeigt, stimmungsvoll, in offenbar gelöster Atmosphäre, vor einer großen Vitrinenwand, unter dem Tisch liegt Glieds Golden Retriever. Es ist ein Foto, das die vertrauensvolle Beziehung perfekt eingefangen hat. „Ich begebe mich mit ihnen auf die Reise, leide auch mit ihnen", sagt Walther über die Interviews, in denen er alle grausamen Details, die seine Mandanten im Nazi-Deutschland erleben mussten, erfährt. Während der NS-Prozesse von München, Lüneburg und jetzt Detmold ist Walther Tag und Nacht erreichbar. Für Mandanten wie auch für Journalisten und andere Prozessbeteiligte. Ist diese Dauerbelastung überhaupt auszuhalten? „Sicher, die Arbeit ist belastend, aber auch befruchtend", betont der 73-Jährige. Vor allem die Dankbarkeit der Holocaust-Opfer treibt ihn an: „Da liegt etwas seit 70 Jahren in Blut und Asche, und plötzlich stellen die Menschen fest, dass sich ihre desaströse Situation, ihr Leben noch verändern lässt. Ihre positiven Rückmeldungen sind Bestätigung für den eigenen Weg und Kraftquelle zugleich." Ob es nach dem Urteil gegen Reinhold Hanning weitere NS-Prozesse geben wird, ist fraglich. Aber wenn, wird Walther ganz sicher wieder dabei sein und an der Seite der jüdischen Nachfahren kämpfen. Für die späte Gerechtigkeit der Holocaust-Opfer.