Bückeburg/Bielefeld. Wenn Siegfried A., der heute 30 Jahre alt ist und als Gärtner arbeitet, sich an seine Kinderzeit erinnert, wird sein Tonfall ernst. „Ich war höchst aggressiv, habe geraucht und die Schule geschwänzt", erinnert er sich im Gespräch mit dieser Zeitung. So landete A., der in Bielefeld aufwuchs und heute im Kreis Warendorf lebt, in einem Heim für schwer erziehbare Kinder und Jugendliche der Hirschkuppe in Rinteln. Sein damaliger Erzieher sei Stefan W. aus Lippe gewesen. „Er war die einzige Person, der ich mich bis dahin anvertraut habe." W. habe ihm gezeigt, dass es noch einen anderen Lebensstil gebe als den, den er als Kind geführt habe. Es entwickelte sich zwischen den beiden ein intensives persönliches Verhältnis, wie A. berichtet. W. erzählte ihm viel von seiner Lebensgeschichte und machte ihm Geschenke. Beide nahmen auch gemeinsam einen Husky im Tierheim von Bückeburg in Pflege, wie A. berichtet. Als Kind ließ sich A. auf die kommunikative Art seines Erziehers ein. „Er hat eine Abhängigkeit geschaffen", wie er es heute einordnet. Doch dann berichtet A. über die andere Seite des Stefan W. Auf einer gemeinsamen Autofahrt habe der sich ihm körperlich genähert und ihn oral sexuell befriedigt. „Darauf habe ich mich eingelassen." Gleichzeitig sagt A.: „Ich konnte das nicht zuordnen. Wie auch?" Damals, im Alter ab 12 Jahren, habe es sich nicht falsch angefühlt. Heute jedoch, als alleinerziehender Vater eines dreijährigen Jungen, sagt A.: „Meine komplette sexuelle Selbstbestimmung ist über den Jordan." Ab heute wird sich die Große Jugendkammer des Bückeburger Landgerichts mit diesen und weiteren Anschuldigungen befassen. Der Vorwurf der Staatsanwaltschaft: W., heute Mitte 40, soll als Erzieher in dem Rintelner Jugendheim mehr als zehn Jahre lang ihm anvertraute Kinder und Jugendliche sexuell missbraucht haben. Dem Beschuldigten werden 15 Taten gegen insgesamt vier Opfer, davon drei aus OWL, zur Last gelegt. In vier Fällen soll A. das Opfer gewesen sein. Der Erzieher bestreitet die Tatvorwürfe laut seinem Verteidiger Ralf Jordan komplett. „Wir werden für die Wahrheit in diesem Fall kämpfen. Und die wird ans Tageslicht kommen", sagte Jordan auf Anfrage dieser Zeitung. Laut Vorwurf der Staatsanwaltschaft sollen sich die Taten zwischen 1999 und 2009 ereignet haben. Die Übergriffe sollen sich demzufolge im Heim selbst, dem Jugendhof Hirschkuppe in Rinteln, auf Freizeiten oder im Auto des Angeklagten ereignet haben. Laut Landgericht Bückeburg soll W. die Opfer jeweils gezwungen haben, ihn oral zu befriedigen. Die jahrelangen polizeilichen Ermittlungen, die dem Prozess vorausgingen, hat Siegfried A. ins Rollen gebracht, der in Bielefeld aufwuchs und zur Grundschule gegangen ist, wie er berichtet. Die erste Anzeige habe er 2012 beim Polizeipräsidium Bielefeld gestellt. „Mein bester Freund ist die Triebfeder gewesen", erinnert er sich. Dieser habe ihm geraten, zur Polizei zu gehen und die Taten dort anzuzeigen. Ja, er habe kurzzeitig daran gedacht, W. zu erpressen, um aus der Situation finanzielle Vorteile zu ziehen, räumt A. offen ein. Dies habe er jedoch schnell verworfen, er habe nie Geld von W. gefordert. Stattdessen habe er den Weg der Strafanzeige gewählt. W. habe zeitweise versucht, eine Pflegschaft für ihn zu übernehmen, was aber nicht zustande gekommen sei.Insgesamt bewertet A. die Konstellation im Rintelner Heim im fraglichen Zeitraum heute so: Der Erzieher habe „ein zu inniges Verhältnis zu einigen der Kinder" gehabt. Deshalb sagt er heute: „Für sein Handeln hat man Konsequenzen zu tragen."Es wird nun Aufgabe des Gerichts sein, festzustellen, wie stichhaltig die vorgelegten Beweise zu den Tatvorwürfen sind. Wie aufwendig dies ist, zeigt sich an den Planungen der Jugendkammer. Elf Sitzungstage sind anberaumt, 24 Zeugen sollen gehört werden. Ein Großteil des Verfahrens dürfte zum Schutz der Opfer unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfinden. „Ich gehe mit Sicherheit davon aus, dass solche Anträge gestellt werden", sagt Thorsten Garbe, Sprecher des Landgerichts Bückeburg. Zur Verhandlung stehen die Vorwürfe des sexuellen Missbrauchs von Kindern und Jugendlichen, des schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern und des sexuellen Missbrauchs von Schutzbefohlenen. Sollte das Gericht von der Schuld des Angeklagten überzeugt sein, drohe ihm eine Haftstrafe von maximal zwei bis 15 Jahren. Garbe bestätigt auf Nachfrage, dass W. heute nicht mehr mit Jugendlichen arbeite und derzeit auf freiem Fuß sei. Den Zeugenaussagen dürfte eine entscheidende Rolle bei der Beweisführung zukommen. Nach Ansicht von Heidi Saarmann, die Siegfried A. als Rechtsanwältin vor Gericht vertritt, gibt es „eine hinreichende Wahrscheinlichkeit, dass das Verfahren in einer Verurteilung endet". Immerhin seien die vier Opfer getrennt voneinander zu den Tatvorwürfen befragt worden.Saarmann merkt an, dass es männlichen Opfern besonders schwer falle, über sexuelle Übergriffe zu sprechen, denn solche Erfahrungen gingen zumeist einher mit einer Identitätskrise der Opfer. Insofern bedeute der Prozess „richtig harte Arbeit für die Zeugen".