Immer, wenn jemand "kostenloser Nahverkehr" sagt, fängt ein Dorfkind an zu weinen

Matthias Schwarzer

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Öffentlicher Nahverkehr? In der Pampa eine Seltenheit. - © dpa - Report
Öffentlicher Nahverkehr? In der Pampa eine Seltenheit. (© dpa - Report)

Bielefeld. Auf Twitter teilt sich seit ein paar Tagen ein Spruch, der sich großer Beliebtheit erfreut. In weißer Schrift auf pinkem Untergrund steht: "Ich finde eine Kauf-gar-kein-Auto-Prämie von 5000 Euro angemessen. Auszahlbar wahlweise als Bahncard 100, Proficard, ÖPNV, Fahrrad."

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Ursprünglich stammen diese Sätze von Lisa Rosa und sind bereits zwei Jahre alt. Jetzt, wo VW seinen Kunden 10.000 Euro Prämie für ein vermeintlich "sauberes" Modell spendieren will, gewinnt der Vorschlag jedoch wieder an Aktualität.

Auf Twitter überschlägt man sich förmlich mit dem Beifall für diese Idee. Einige rufen angesichts der Dieselkrise bereits das "Ende des Individualverkehrs" aus. Der Autor Mario Sixtus twitterte am Samstag: "Wer sich verpflichtet, niemals mehr ein eigenes Auto zu kaufen, bekommt eine kostenlose Bahncard 100. Na? Grüne? Wahlprogramm?"

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So sehr ich diese Begeisterung teilen und die Idee befürworten möchte: Die ganze Diskussion um den kostenlosen Nahverkehr und das "Ende des Individualverkehrs" trieft nur so vor Berlin-Mitte-Überheblichkeit. Würde ein Dorfkind diese Unterhaltungen mitbekommen, würde es vermutlich anfangen zu weinen. Zum Glück kann es keine Twitter-Diskussionen lesen, denn es hat ja kein Netz.

Kein Bus nach Acht

Aufgewachsen im allertiefsten Münsterland, zwischen Rind- und Schweinezucht, gab es für mich als ehemaliges Landkind seinerzeit zwei Möglichkeiten: 1) ein Fahrrad oder 2) einen frisierten Roller.

Beides hat man nicht etwa genutzt, um zur Schule zu kommen. Sondern um zum SCHULBUS zu kommen. Die wenigsten wissen offenbar, dass ein "Dorf" nicht zwangsläufig aus dem Kirchplatz und ein paar Häusern mit Bushaltestelle besteht - sondern im schlimmsten Fall aus großflächig verstreuten Bauerschaften drumherum. Allein um die nächste Bushaltestelle zu erreichen, ist zum Teil enormer Aufwand nötig. In meinem Fall betrug der Weg dorthin mit dem Rad jeden Morgen allein 25 Minuten.

Der Bus selbst fuhr dann noch mal eine Stunde lang eine Strecke ab, die mit dem Auto in etwa 20 Minuten zurückgelegt werden kann. Insgesamt war man also für den Schulweg von etwa 30 Minuten mit dem Auto fast anderthalb Stunden mit dem ÖPNV unterwegs. Wer abends etwas erleben wollte, war zwangsläufig auf ein Auto angewiesen. Denn der letzte Bus fuhr um 19 Uhr, am Wochenende manchmal gar nicht.

Es hat sich nichts geändert

Interessanterweise hat sich das in all den Jahren nicht geändert. Wer beispielsweise in Harsewinkel wohnt und seine Freunde in Warendorf besuchen möchte, muss an einem Samstagabend zunächst mit dem Bus in die entgegengesetzte Richtung nach Gütersloh fahren - und dann von dort mit der Bahn weiter zum Warendorfer Bahnhof. Vor Ort steht er dann vor dem nächsten Dilemma - sofern sich das Haus der Freunde nicht direkt am Bahnhof befindet (was sehr unwahrscheinlich ist).

Wer Samstagabend zum Feiern von Harsewinkel nach Bielefeld fahren will, kann das zwar problemlos tun - der nächste Bus zurück fährt allerdings erst am Sonntagmorgen um 10 Uhr. Das wird eine lange Nacht. Noch schlimmer ist die Situation in noch kleineren Dörfern. Plant man beispielsweise eine Fahrt vom 1.500-Seelen-Dorf Bergkirchen nach Bad Oeynhausen, findet man dort am Wochenende keine einzige Busverbindung.

Es ist wie es ist: Wer in der Pampa aufwächst, der wird mit dem Auto sozialisiert - das war früher so, das ist heute auch noch so. Wer als Dorfkind zum ersten Mal im Leben so etwas wie "Freiheit" spüren möchte, der macht mit 18 seinen Führerschein, erkundet die Welt und verpestet die Umwelt.

Es ist aussichtslos

Ich habe Freunde, die haben gar keinen Führerschein - und sehen auch keinen Grund, jemals einen zu machen. Weil sie ihr ganzes Leben in Ballungszentren verbracht und das ganze Elend fernab der Bahnstrecke nie kennen gelernt haben.

Die Vision vom "Ende des Individualverkehrs" ist aussichtslos, denn Deutschland ist nicht nur Berlin. Würde man Landstriche wie Ostwestfalen und das Münsterland an einen regelmäßigen öffentlichen Nahverkehr anbinden wollen, wäre ein Radikal-Umbau nötig - der zudem vermutlich völlig unwirtschaftlich wäre.

Das gezielte Umschwenken auf alternative Antriebsformen und ein vernünftiger Nahverkehrs-Mix würde vermutlich einiges mehr bringen als radikale Forderungen. Denn damit ist kaum jemandem geholfen, schon gar nicht den Dorfkindern.

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