Mit den 9-Euro-Monatstickets im Nahverkehr sind nach Ansicht des Fahrgastverbandes Pro Bahn NRW wahrscheinlich zunächst nur in geringem Umfang zusätzliche neue Kunden gewonnen worden, die dauerhaft auf Bus und Bahn umsteigen werden. Die starke Nachfrage habe vor allem im Freizeitverkehr bestanden, sagte der Sprecher von Pro Bahn NRW, Lothar Ebbers, der dpa. Für eine Verkehrswende sei allerdings der Alltagsverkehr entscheidend. Der Schienenpersonennahverkehr - also S-Bahnen und Regionalzüge - sei im Berufsverkehr für Viele weiterhin keine Alternative, da er unter starken Qualitätsmängeln wie etwa Verspätungen, Baustellen und Zugausfällen leide. «Er ist für den Fahrgast teilweise kaum mehr kalkulierbar», kritisiert Ebbers. Auf der anderen Seite seien allerdings die hohen Spritpreise für viele Autofahrer ein Anlass gewesen, auch mal das Fahren mit Bus und Bahn auszuprobieren. Pro Bahn NRW geht davon aus, dass die Nachfrage im Nahverkehr nach dem Ende der 9-Euro-Tickets deutlich nachlassen wird. «Zwar gibt es dann wie in den Vorjahren die NRW-Abo-Aktion an Wochenenden und in den Herbstferien, die aber deutlich geringer merkbar ist», meint Ebbers. Im Aktionszeitraum habe es in einigen Fällen auch chaotische Situationen auf Bahnsteigen gegeben, insbesondere wenn Züge ausfielen oder Kapazitäten etwa durch Baustellen eingeschränkt gewesen seien. Nach Ansicht der Verkehrsunternehmen zeigten die in den vergangenen drei Monaten millionenfach genutzten Tickets in NRW, wie gut die Aktion angekommen sei. «Wir haben es geschafft, den ÖPNV und seine grundsätzliche Attraktivität - sowohl aus sozial- als auch aus umweltpolitischer Sicht - wieder stärker ins Bewusstsein weiter Teile der Bevölkerung zu bringen», sagte vor wenigen Tagen der Geschäftsführer des Nahverkehrs Westfalen-Lippe, Joachim Künzel, der auch Programmleiter der Brancheninitiative Fokus Bahn NRW ist. Das Ticket habe viele Menschen dazu gebracht, den öffentlichen Verkehr zu nutzen, die dies sonst nicht getan hätten, wie erste Ergebnisse der Marktforschung zeigten. Darauf gelte es aufzubauen. Um die Klimaziele zu erreichen und die dafür notwendige Mobilitätswende in Gang zu halten, sei schnell weitere Finanzhilfe durch die Politik nötig. Durch Mehrbelastungen bei Energie- und Personalkosten seien sogar relevante Teile des heutigen Bestandes gefährdet geschweige denn die Ziele bei Ausbau und Qualitätsverbesserung erreichbar. Die Brancheninitiative wies auf große Anstrengung hin, das erhöhte Fahrgastaufkommen zu meistern: «Wir haben alles gegeben, sind aber im System Bahn in Nordrhein-Westfalen deutlich an Belastungsgrenzen gestoßen», sagte der Geschäftsführer von National Express, Marcel Winter, laut Mitteilung. Dass die 9-Euro-Ticket-Aktion trotz aller Widrigkeiten ein Erfolg gewesen sei, sei nicht nur der Toleranz der Fahrgäste, sondern auch dem bemerkenswerten Engagement der rund 7000 Mitarbeitenden im Schienenpersonennahverkehr von NRW zu verdanken. Auch der Verkehrsverbund Rhein-Ruhr (VRR) räumte in seiner Bilanz der allgemeinen Euphorie über den guten Verkauf zum Trotz am Dienstag große Probleme ein. 3,7 Millionen 9-Euro-Tickets seien in den drei Monaten verkauft worden, so der VRR. Die drei Monate hätten dem «System des ÖPNV» aber auch «seine Grenzen aufgezeigt». Durch den Ansturm sei es zu Haltezeitüberschreitungen und Verspätungen gekommen. Viele Linien der Hauptachse von Düsseldorf durch das Ruhrgebiet seien derart stark belastet gewesen, «dass Reisende teilweise nicht zusteigen konnten», so der VRR weiter. «Was bei der ganzen Debatte um das Ticket viel zu kurz kommt, sind die Menschen, die das System aufrechterhalten haben. Sie haben 90 Tage 150-prozentigen Einsatz gezeigt. Dass das nicht spurlos an ihnen vorbei geht, erfahren wir jetzt», sagte VRR-Vorstandssprecherin Gabriele Matz. «Bei den Eisenbahnverkehrsunternehmen haben wir eine hohe Krankenquote, die sich derzeit massiv auf die Angebotsqualität niederschlägt.» VRR-Vorstand José Luis Castrillo meinte: «Drei Monate reichen nicht aus, um langjährige Mobilitätsroutinen als substanziell verändert erkennen zu können beziehungsweise, dass sich Menschen in ihrem Mobilitätsverhalten umentscheiden. Schon gar nicht, wenn die Nutzungskonditionen so erheblich vom Gewohnten abweichen.» Der Erfolg der Aktion hänge nicht nur vom Preis ab, sondern auch «vom Zugang zu den Tickets, vom Angebot, vom Nutzungserlebnis und von seiner Einfachheit.» Diese Faktoren müssten bei eventuellen Folgeprodukten berücksichtigt werden. Viele Krankheitsausfälle etwa bei Lokführerinnen und Lokführern oder in den Leitstellen sowie urlaubsbedingte Abwesenheiten hätten die Personalengpässe laut Fahrgastverband bei einigen der Unternehmen in den vergangenen Wochen verschärft. Hinzu kämen zahlreiche Baustellen, verursacht unter anderem durch lang geplante und notwendige Baumaßnahmen im Schienennetz, die zusätzlich für Verzögerungen im Zugverkehr sorgten. Nach Ansicht des Fahrgastverbandes waren die Eisenbahnunternehmen auf den zusätzlichen Ansturm keineswegs vorbereitet. Sie konnten dies laut Ebbers auch aufgrund fehlender Ressourcen bei Fahrzeugen und Personal in der Kürze der Zeit nicht schaffen. Lange mitgeschleppte Probleme wie zu wenig Personal seien jetzt in vollem Umfang sichtbar geworden, sagte er. Die kommunalen Betriebe mit Bussen, Straßen- und Stadtbahnen hätten die große Nachfrage recht gut bewältigt, auch wenn bei ihnen das Personal knapp und der Krankenstand hoch gewesen sei. Die Nahverkehrsunternehmen haben bereits vor einigen Wochen mit Blick auf steigende Energiekosten, Inflation und die Verkehrswende Alarm geschlagen. Für das kommende Jahr rechnen die vier Verkehrsverbünde in NRW jetzt schon mit einem Defizit von insgesamt gut einer halben Milliarde Euro. Sie appellieren an Bund und Land, mehr Geld für den Erhalt sowie den Ausbau des Verkehrsangebots zu investieren. Die NRW-Kreise wiesen darauf hin, dass zunächst die Finanzierung des ÖPNV gesichtet und das Verkehrsnetz weiter ausgebaut und modernisiert werden müsse. «Ein einfaches Ticketsystem nützt nichts, wenn Verkehrsbetriebe Pleite gehen. Um die Positiveffekte des 9-Euro-Tickets auf Dauer zu nutzen, muss gleichzeitig in Infrastruktur, Betrieb und Leistungsausbau massiv investiert werden», forderte der Hauptgeschäftsführer des Landkreistags NRW, Martin Klein. Bund und Länder seien am Zug, den qualitativen und quantitativen Ausbau des ÖPNV zu sichern.