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Unterlassene Hilfeleistung aus Unsicherheit oder aus Ignoranz

Erol Kamisli

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Das undatierte Foto der Polizei Essen zeigt Bankkunden in Essen, die im Vorraum einer Bank über einen hilflosen Mann hinwegsteigen, der am Boden liegt. Der Mann verstarb später im Krankenhaus. - © dpa
Das undatierte Foto der Polizei Essen zeigt Bankkunden in Essen, die im Vorraum einer Bank über einen hilflosen Mann hinwegsteigen, der am Boden liegt. Der Mann verstarb später im Krankenhaus. (© dpa)

Kreis Lippe. In Essen ist ein 82-Jähriger in einer Bank zusammengebrochen und gestorben. Nun ermittelt die Polizei gegen vier Kunden, die ihm nicht halfen. Die Aufklärung einer möglichen Straftat - unterlassene Hilfeleistung - ist die eine Seite dieses Falles. Die Frage, warum die Bankkunden nicht geholfen haben, die andere - und komplexere.

„Ich gehe nicht von Desinteresse aus, sondern von Unsicherheit", diagnostiziert Frank Hartmann, Ersthilfe-Ausbilder beim DRK in Lippe. Auch das Argument der anonymen Großstadt erkläre den Vorfall nicht. Hartmann: „Hier im ländlichen Lippe kann so ein Fall auch passieren. Ursachen sind sehr oft die Angst, etwas falsch zu machen, oder die Angst vor Überforderung."

So mancher komme nicht damit klar, wenn er bei einem Hilfsbedürftigen den Puls fühlen oder eine Herz-Lungen-Wiederbelebung durchzuführen habe. Hartmann rät dazu, hilf- oder gar leblose Personen anzusprechen und zu prüfen, ob sie reagierten. Das gelte auch für Menschen, die volltrunken in der Innenstadt auf dem Pflaster lägen. Erst recht bei Minusgraden im Winter bestehe akute Lebensgefahr. Aber viele seien in solchen Situationen sehr passiv und warteten lieber ab. „Und das ist ein großer Fehler, denn das Schlimmste ist, nicht zu handeln. Hier gibt es keine schlechte Hilfe", so der DRK-Ausbilder.

Er sei sich bewusst, dass Empathie und Einfühlungsvermögen keine angeborenen Fähigkeiten seien, sondern genauso wie Zivilcourage erlernt werden müssten. „Daher gehört die Erste-Hilfe-Ausbildung verpflichtend ab der 6. oder 7. Klassen auf den Stundenplan", fordert Hartmann. Bereits vor zwei Jahren habe die Kultusministerkonferenz Erste-Hilfe-Kurse in allen Bundesländern empfohlen. Einige Schulen haben diesen Rat angenommen, flächendeckend verpflichtend seien die Kurse leider nicht.

Doch der 49-Jährige übt auch Selbstkritik: „In der Vergangenheit haben das DRK und auch andere Organisationen, in ihren Erst-Hilfe-Kursen immer wieder darauf hingewiesen, dass die Ersthelfer das Opfer verletzen können, das hat viele Menschen verunsichert."

Dies sei im Rückblick ein Fehler gewesen, den man inzwischen korrigiert habe. „Man kann nichts falsch machen, wenn man hilft. Jede Hilfe kann Leben retten und ist sehr leicht erlernbar", betont Hartmann. Dazu gehöre auch der Einsatz von Defibrillatoren, die bei Herzstillstrand Leben retten können.

Diese „Lebensretter" finden sich auch in den Vorräumen heimischer Banken, die zumeist 24 Stunden geöffnet sind. „Viele unserer Filialen sind rund um Uhr geöffnet, kameraüberwacht und für den Notfall mit Defibrillatoren bestückt", sagt Indra Köller von der Volksbank Paderborn-Höxter-Detmold. Auch die Sparkasse Lemgo sowie die Sparkasse Paderborn-Detmold und die Deutsche Bank in Detmold haben ihre Vorräume 24 Stunden geöffnet und zum großen Teil mit Defibrillatoren ausgestattet. Dagegen schließt die Commerzbank ihre Türen ab 22 Uhr.

„Ich gehe von einer Verurteilung aus"
Gegen vier Bankkunden in Essen läuft ein Strafverfahren wegen unterlassener Hilfeleistung. Der Detmolder Oberstaatsanwalt Christopher Imig beantwortet Fragen zum juristischen Sachverhalt.

Herr Imig, wann spricht man von „unterlassener Hilfeleistung"?

Imig: Wenn man in bestimmten Situationen keine Hilfe leistet, obwohl dies erforderlich und nach den Umständen zumutbar wäre, spricht man im Sinne von § 323 c Strafgesetzbuch von „unterlassener Hilfeleistung". Das wird mit einer Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder einer Geldstrafe geahndet. Das Gesetz weist jedoch darauf hin, dass man sich nicht in erhebliche eigene Gefahr zu bringen braucht.

Ist es eigentlich auch „unterlassene Hilfeleistung", wenn der Notruf nicht gewählt wird?

Imig: Man muss das tun, was erforderlich ist, um dem Menschen zu helfen. Das wird in erster Linie Erste Hilfe sein, bezieht sich aber auch auf den Notruf, wenn der Mensch ihn nicht selbst absetzen kann.

Beschäftigt „unterlassene Hilfeleistung" häufig die Gerichte?

Imig: Wenig. Aber es gibt noch ein zweites Themenfeld, das so ähnlich ist und höhere praktische Relevanz hat: Nach §13 Strafgesetzbuch wird derjenige, der nichts tut, so bestraft wie ein handelnder Täter. Ein Arzt oder ein Ehegatte, der zusieht, wie ein Patient oder die Ehefrau stirbt und nichts unternimmt, kann wegen Totschlags durch Unterlassen bestraft werden.

Haben Sie ein Beispiel?

Imig: Erinnern Sie sich an den Fall Arzu Özmen, die junge Jesidin aus Detmold, die von ihrem Bruder ermordet worden ist? Fendi Özmen, der Vater des Opfers, wurde wegen Beihilfe zum Mord durch Unterlassen bestraft, weil man von ihm als Vater erwartet hätte, dass er eingreift und den Mord an Tochter Arzu verhindert.

Werden Menschen, die Hilfeleistung unterlassen haben, regelmäßig ermittelt?

Imig: Ihre Frage zielt auf ähnliche Fälle wie in Essen. Ich denke an Gaffer, die nicht helfen, obwohl sie könnten.

Und wie schätzen Sie den Essener Fall ein? Werden die Kunden, die nicht geholfen haben, verurteilt?

Imig: Davon gehe ich aus. Man fragt sich natürlich, warum die nichts gemacht haben. Ich selbst kenne Situationen, wo offenbar Obdachlose oder Betrunkene bei schlechtem Wetter in Vorräumen von Banken herumliegen, ohne dass man auf die Idee käme, Hilfe zu holen. Vor zwei Jahren haben meine Frau und ich zur „Andreasmesse" einen scheinbar Hilfsbedürftigen in einem Detmolder Bankvorraum gefunden und von einem Stand der Lion‘s einen Arzt gerufen, der dann aber feststellen musste, dass der Mensch einfach nur voll und müde war.

Lebensretter auf der Schulbank
Ein Kommentar von LZ-Redakteur Erol Kamisli
Wiederbelebung ist kinderleicht. „Prüfen, Rufen, Drücken!": Auf diese simple Formel bringt es DRK-Ausbilder Frank Hartmann. Hat man geprüft, dass keine normale Atmung da ist und den Notruf abgesetzt, drückt man „fest und schnell in der Mitte des Brustkorbs, mindestens 100 Mal pro Minute, bis Hilfe eintrifft". Eigentlich könnte das jeder Schüler lernen und im Ernstfall anwenden – was in Deutschland Experten zufolge Tausende Leben retten könnte.

Doch die Realität ist: Wer hierzulande im Beisein von anderen einen Herzstillstand erleidet, bei dem versuchen nur in einem Drittel der Fälle die Umstehenden eine Herzdruckmassage. Diesen skandalösen Zustand könnte ein regelmäßiges Reanimationsunterricht als Schulstoff abhelfen: Wenige Stunden pro Jahr müssten die Schulen ab Klasse 7 abzweigen, einmalig müssten Lernpuppen angeschafft und Lehrer geschult werden. Der Kultusministerkonferenz erschien dieses in Pilotprojekten erfolgreiche Konzept 2014 eine Empfehlung wert.

Trotzdem stockt nach den Worten von Hartmann die flächendeckende Umsetzung in Lippe und NRW. Während andere Bundesländer bereits Zehntausende Puppen angeschafft und Lehrer geschult haben, geht’s bei uns nicht voran. Dabei könnten erfolgreichen Konzepte aus anderen Bundesländern kopiert werden. Natürlich kostet das Geld. Aber wo könnte man das besser investieren als in eine Generation Lebensretter?

Information
Hilfe-Tipps
Beim Unfall im Straßenverkehr eine Warnweste tragen, Unfallstelle absichern und Gefahren für sich selbst und andere einschätzen.

Verletzte aus der Gefahrenzone bringen.
Die Umgebung auf den Notfall aufmerksam machen und Notruf veranlassen.

Hilflose Personen ansprechen. Bewusstlose in die Seitenlage bringen, Atmung kontrollieren und gegebenenfalls mit der Herz-Lungen-Wiederbelebung beginnen.

Es gibt mehrere Apps zur Ersten Hilfe, die die Kenntnisse überprüfen, und im Notfall mit Schritt-für-Schritt-Anleitungen helfen. Anbieter sind: DRK,Malteser, Johanniter, Arbeiter Samariter Bund, Deutsche Herzstiftung.

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