Detmold. Die junge Frau liegt im Schlick der Nordsee, bewegungslos, die dominierende Farbe in dieser Szene mit starker Symbolkraft ist Grau. So hatte Sabine Marina die Momente empfunden, die ihr Leben änderten: den ersten Krankheitsschub und dann die Diagnose "Multiple Sklerose". Doch statt in Angst und Sorge zu verharren, nutzte die damals 25-jährige Studentin ihr Talent - und verarbeitete die Krankheit in einem Film. "Kleine graue Wolke" ist vier Jahre nach der Diagnose fertig und kommt am 24. September in die Kinos.
Multiple Sklerose
Multiple Sklerose, kurz MS genannt, ist eine Autoimmunerkrankung, bei der das Immunsystem körpereigenes Gewebe angreift.Bei der MS betrifft es die Schutzschicht der Nervenfasern im Gehirn und im Rückenmark, die unsere Nervenzellen miteinander verbinden. Abwehrzellen zerstören diese Schicht und es entstehen Entzündungen - mit gravierenden Folgen: Die Übertragung der Informationen zwischen den Nervenzellen wird gestört. Es kann zu Sprach- und Sehstörungen oder sogar Lähmungen kommen.
Der Verlauf der Krankheit ist so individuell wie ein Fingerabdruck und kann somit nicht vorausgesagt werden. Daher wird MS auch "die Krankheit mit den 1.000 Gesichtern" genannt.
Quelle: W-film
"Es ist so selbstverständlich gewesen, gesund zu sein. Krank waren immer nur die Anderen", ist die Stimme der Regisseurin und Hauptdarstellerin zu hören, während sie auf der Leinwand durch eine heitere sommerliche Landschaft radelt. Es folgen Szenen aus südlichen Gefilden, deren Buntheit abrupt in eine bedrohlich wirkende Bildverzerrung wechseln. So hatte die heute 29-Jährige die ersten Ausläufer ihrer Krankheit erlebt.
Doch während sie im Kroatienurlaub noch an eine vorübergehende Sehstörung glaubte, traf sie, zurück in Ostwestfalen, der Befund mit voller Wucht: "Sie haben da eine kleine graue Wolke an Ihrem blauen Himmel", hatte der Neurologe nach Sichtung der MRT-Aufnahmen von Sabine Marinas Gehirn bildhaft erklärt. Mit "grauer Wolke" umschrieb er den Entzündungsherd in ihrem Gehirn, der für die Symptome verantwortlich war - neben der Sehnerventzündung Kribbeln in einzelnen Gliedmaßen, Gangunsicherheit, Fatigue (starke Erschöpfung). Wie schwer wird die Krankheit sie treffen, wie wird der Verlauf sein? Die Worte "unheilbar" und "unvorhersehbar" machten ihr Angst.
Verzweifeln kam nicht in Frage, Verdrängen erst recht nicht
Stattdessen setzte sie ihr Vorhaben um, ihre Bachelorarbeit im Fach Medienproduktion an der Hochschule OWL anzugehen - nun eben mit einem Film über MS. Kurzerhand hatte sich ein kleines Filmteam gegründet, Frog Motion, das mit ihr das Land bereiste. Immer auf der Suche nach MS-Betroffenen und ihren so unterschiedlichen Geschichten. Da ist die junge Schauspielerin, die ihre Krankheit geheim hält, weil sie fürchtet, für weniger leistungsfähig gehalten zu werden und deshalb berufliche Nachteile zu erleiden. Oder die Lichtgestalt einer MS-Seminargruppe in Wremen, die ihre schweren Symptome durch eine unkonventionelle Therapie bewältigte.Ein Besuch bei einem Ehepaar, die beide von MS betroffen sind und einander in berührender Weise beistehen ("Jeder macht das für den anderen, was er noch kann", schildert Peter, der im Rollstuhl sitzt, während seine Frau Silke mit einer Sprachbehinderung zu kämpfen hat). Sie erzählt von der jungen Mutter, der man im modernen Medizinbetrieb wenig einfühlsam geraten hatte, schleunigst abzunehmen, "damit später noch jemand den Rollstuhl schieben kann". Sie alle haben sich der Autorin, die eine von ihnen ist, geöffnet. Sie haben viel Persönliches und ihre so unterschiedlichen Krankheitsverläufe offengelegt.
Im Film wechseln diese dokumentarischen Szenen mit Spielfilmsequenzen, die das Gefühl des Ausgeschlossenseins und die Zukunftsängste der Betroffenen - manchmal freilich etwas pathetisch - behandeln. Thematisiert werden die Frage der Familiengründung trotz MS und die Option einer Langzeittherapie mit massiven Nebenwirkungen, die Marina wegen ihres bislang sanfteren Verlaufs ausschließt. Aufschlussreich ist, wie die Betroffenen Mitleid und Betroffenheit der Gesunden erleben.
Film schließt Lücke zwischen Lehrbuchmaterial und Spielfilm
Mit "Kleine graue Wolke" schließt sich eine Lücke zwischen faktenorientiertem Lehrbuchmaterial und Spielfilm, der keineswegs bleischwer daherkommt. "Ich würde mir wünschen, dass der Film bei Betroffenen ebenso ankommt wie beim Fachpublikum", sagt die junge Frau, die inzwischen in Hamburg an einer kleinen Filmproduktionsfirma beteiligt ist und für ihren Film schon erste Erfolge verbuchen kann: Mit dem "Hertie-Preis für Engagement und Selbsthilfe" ist sie ausgezeichnet worden, aktuell ist er für den "Deutschen Engagement Preis" nominiert."Ich habe es geschafft, meinen ersten Film abzuschließen, bevor ich 30 bin", freut sich Sabine Marina bei der Filmpräsentation in Detmold. Dass sie keinen "weichgespülten" Betroffenheitsstreifen vorlegt, sondern eine vielschichtige, sogar hoffnungsvolle Innenansicht, bekommt sie vom Publikum zurückgemeldet. "Mir geht es nicht darum, was wir durch die MS verloren haben, sondern was wir durch sie finden", ist ihr Fazit. Es ist ihr Weg zu einem mutigen Umgang mit einer Lebenskrise.
Kinotermine für die Region sind hier zu erfahren. Infos auch in diesem Blog.