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AKW Grohnde: Es gibt Evakuierungspläne für 26.000 Lipper

Die radioaktive Wolke vom GAU im Kernkraftwerk Tschernobyl erreichte Deutschland vor 30 Jahren

Thomas Reineke

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Der Atommeiler Grohnde
ist seit 1984 am Netz. Er gehört zu den neun Kernkraftwerken, die
derzeit noch in Deutschland in Betrieb sind. - © Julian Stratenschulte/dpa
Der Atommeiler Grohnde ist seit 1984 am Netz. Er gehört zu den neun Kernkraftwerken, die derzeit noch in Deutschland in Betrieb sind. (© Julian Stratenschulte/dpa)

Kreis Lippe/Grohnde. Ein runder „Geburtstag", auf den jeder gern verzichten würde. Vor 30 Jahren ist in dem Atomkraftwerk in Tschernobyl in der Ukraine der vierte Reaktorblock nach einer beispiellosen Fehlerkette explodiert. Der erste GAU (Größter anzunehmender Unfall) der friedlichen Kernkraftnutzung. 25 Jahre später ereignete sich eine vergleichbare Katastrophe im AKW Dai-ichi in Fukushima auf der japanischen Hauptinsel. Anlass für die LZ, den aktuellen Stand der Strahlensicherheit für Lippe zu skizzieren.

Atomkraft in Lippe? Nein, in ganz NRW gibt es kein AKW. Aber aus Sicht der Experten des Bevölkerungsschutzes in Lippe befindet sich das Kernkraftwerk im niedersächsischen Grohnde an der Weser bei Hameln quasi um die Ecke. Bis zur Kreis- und Landesgrenze sind es Luftlinie nur elf Kilometer. Und ein Störfall in dem AKW hätte schwere Konsequenzen auch für Lippe. Nachfolgend die wichtigsten Fakten.

Das Kernkraftwerk: Das AKW Grohnde ist 1985 ans Netz gegangen und gehört damit unter den acht Kernkraftwerken, die in Deutschland noch in Betrieb sind, zu den ältesten. Gesellschafter sind die E.ON Kernkraft GmbH (83,3 Prozent) und die Stadtwerke Bielefeld (16,7 Prozent). Nach Angaben von E.ON ist Grohnde in seinen mehr als 30 Betriebsjahren acht Mal Weltmeister in Bezug auf die in einem AKW erzeugte Jahresstrommenge gewesen. Im Durchschnitt liefert der Meiler vom Typ Druckwasserreaktor rund elf Milliarden Kilowattstunden per anno. Spätestens am 31. Dezember 2021 muss es vom Netz gegangen sein. Eine Folge des Atomausstiegs nach der Fukushima-Katastrophe.

Was passiert bei einem großen Unfall in Grohnde? Die Störfälle in AKW sind international in acht Stufen eingeteilt – von 0 (Ereignisse ohne oder mit geringer sicherheitstechnischer Bedeutung) bis 7 (schwerste Freisetzung von Radioaktivität wie in Tschernobyl oder Fukushima). In dem Fall, dass nach einem Unfall Radioaktivität in dem Maße freigesetzt wird oder austreten könnte, dass die Gesundheit der Menschen gefährdet ist, wird die Umgebung um Grohnde in vier Zonen eingeteilt: In Z (Zentralzone, fünf Kilometer Radius), M (Mittelzone, 20 Kilometer), A (Außenzone, 100 Kilometer) sowie das weitere Gebiet der Bundesrepublik.

Was passiert in den einzelnen Zonen? Für die Gebiete gibt es unterschiedliche Maßnahmenpakete. So müssen die Bewohner der Zentralzone Z spätestens sechs Stunden nach dem Unfall bei einer akuten Gesundheitsgefahr durch austretende Radioaktivität evakuiert sein. Für die Menschen, die in der Zone M leben, beträgt die Frist 24 Stunden nach dem Alarm.

Das bedeutet konkret: In dem Fall müssten knapp 26.000 Lipper Haus und Hof auf unbestimmte Zeit verlassen – alle Lügder (rund 10.100 Menschen) sowie die Bewohner von Teilen von Barntrup (Stadtmitte, Sonneborn und Alverdissen: 8.300), Blomberg (Eschenbruch: 420), Extertal (Bösingfeld und Hummerbruch: 6.500) sowie Schieder-Schwalenberg (Glashütte: 230). Außerdem würde in der Zone M die Verteilung von Jodtabletten innerhalb von zwölf Stunden nach dem Alarm vorbereitet. In der Zone A, die ganz Ostwestfalen-Lippe umfasst, würde die Verteilung von Jodtabletten an alle Menschen bis 45 Jahren vorbereitet. Dazu würden Notfallstationen geplant. Für Lippe ist im Westen des Kreisgebiets ein Standort in Planung.

Was würde ein großer Unfall in Grohnde für die Behörden bedeuten? Der Kreis Lippe müsste innerhalb seiner Grenzen die Verkehrswege sichern und zum Beispiel Einbahnstraßenregelungen von Ost nach West aus den zu evakuierenden Gebieten hinaus festlegen. Die Abteilung Bevölkerungsschutz geht davon aus, dass sich 70 bis 80 Prozent der Betroffenen selbst mit dem Auto in Sicherheit bringen.

Die nicht mobilen Menschen würden über Sammelstellen in Busse aus den betroffenen Gebieten gebracht. Für bettlägerige Menschen würden Rettungswagen oder Krankentransportwagen eingesetzt. Anschließend müssen die verwaisten Gebiete gesichert sowie Haus- und Nutztiere herausgefahren oder bis dahin versorgt werden.

Wie würde die Bevölkerung gewarnt? Über die im Kreisgebiet verteilten Sirenen würde eine Erstwarnung mit einem eine Minute lang auf- und abschwellenden Ton erfolgen. Zeitgleich würde auch das Handy-Warnsystem Kat-Warn aktiviert und eine Info über „NINA" (die Notfall-App des Bundesamtes für Bevölkerungsschutz) erfolgen. Dazu würden weitere Hinweise und Warnungen über die Medien und über Lautsprecher abgegeben. Ein nächster Probealarm der Sirenen in Lippe ist für Mittwoch, 4. Mai, ab 10.00 Uhr geplant.

AKW-Gegner sehen Sicherheitsmängel

Die Diplom-Physikerin Oda Becker hat im Auftrag des BUND eine Studie zur Sicherheit deutscher AKW verfasst. Der Anlage in Grohnde attestiert sie, nicht erdbebenfest zu sein. Zwar sei ein solches Naturereignis in der Region extrem selten, die letzte Bewertung der Erdbebengefahr habe aber vor rund 18 Jahren stattgefunden.

Ferner hält die Physikerin Grohnde nicht ausreichend gegen Hochwasser geschützt, so dass im Falle eines Falles das Kraftwerksgelände unter Wasser gesetzt würde – mit möglichen Konsequenzen für die (Sicherheits-)Technik. Diese Gefahr sieht die Aufsichtsbehörde, das niedersächsische Umweltministerium, nicht: „Für das AKW Grohnde ist ein ausreichender Hochwasserschutz vorhanden."

Und auch der Betreiber widerspricht der BUND-Studie vehement: „Das Kernkraftwerk Grohnde erfüllt alle sicherheitstechnischen Anforderungen des gültigen Regelwerks in vollem Umfang – insbesondere bezüglich des Hochwasserschutzes und des Schutzes gegen Erdbeben. Sämtliche Untersuchungen und Sicherheitsüberprüfungen, insbesondere im Rahmen des EU-Stresstests, haben gezeigt, dass das Kernkraftwerk Grohnde bei allen unterstellten Szenarien über große Sicherheitsreserven verfügt", sagt Almut Zyweck, Unternehmenskommunikation bei der E.ON Kernkraft GmbH.

Aktuell hängt der Meiler nicht am Netz. Der Grund ist, dass bei Revisionsarbeiten ein Schaden an einer von insgesamt vier Nachkühlpumpen festgestellt worden ist. Diese ist laut Angaben der Initiative „AKW Grohnde – Nein Danke" Teil des Notkühlsystems, das bei Leckstörfällen eine Kernschmelze verhindern soll. Diese Störung sei für sich genommen erst mal kein ernstes Problem. „Aber in einer echten Notsituation kommt es dann oft auf genau auf so ein technisches Bauteil an", warnt AKW-Gegner Andreas Rohrmann (Barntrup).

Was passiert nach 2021? Unternehmenssprecherin Zyweck: „Wir gehen aufgrund von Erfahrungen mit den bereits laufenden oder erfolgten Rückbauprojekten Stade und Würgassen von Kosten für den Abbau der Anlage in einer Größenordnung von rund 1 Milliarde Euro aus." Dafür habe E.ON mit Rückstellungen finanziell vorgesorgt.

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