Kreis Lippe/Berlin. Eine Lippische Landes-Zeitung der besonderen Art gab es für den Brakelsieker Frank-Walter Steinmeier von LZ-Redakteurin Silke Buhrmester bei ihrem Besuch in Berlin: die Zeitung vom 5. Januar 1956, dem Geburtstag des künftigen Bundespräsidenten.
Dass just an jenem Januartag vor 61 Jahren Konrad Adenauer seinen 80. Geburtstag gefeiert hatte, war dem ehemaligen Außenminister und SPD-Politiker natürlich bekannt. In seinem kleinen Abgeordneten-Büro im Paul-Löbe-Haus nahm sich das deutsche Staatsoberhaupt in spe viel Zeit, um die Fragen seiner Heimatzeitung zu beantworten.

Seine Büroleiter Dörte Dinger und Sebastian Haase nahmen an dem Gespräch teil, in dem Steinmeier über die großen Herausforderungen des neuen Amtes ebenso sprach wie über seine lippischen Wurzeln und Eigenschaften. Was er sich als Mitbringsel aus Lippe gewünscht hätte? Steinmeier musste nicht lange überlegen: „Pickert mit Rosinen – die süße Variante, nicht mit Leberwurst." Beim nächsten Mal, versprochen!
Herr Steinmeier, die LZ wird 2017 stolze 250 Jahre alt. Lesen Sie selbst überhaupt noch eine gedruckte Zeitung?
Steinmeier: Jetzt wieder. Als Außenminister las ich ja nicht nur eine Zeitung in großer Tiefe, sondern möglichst viel über Außenpolitik in allen Zeitungen, deutschen und internationalen. Meine Mitarbeiter haben mir täglich einen Pressespiegel mit allen außenpolitisch wichtigen und weniger wichtigen Artikeln zusammengestellt und in aller Herrgottsfrühe gemailt. Jetzt ist es nach wenigen Tagen schon anders geworden: Mein Blick weitet sich wieder auf deutsche Innenpolitik und auf Fragen von Kultur und Wissenschaft. Ich lese Zeitungen wieder von vorn nach hinten – samt Feuilleton und Sport und stelle fest, wieviel Interessantes und Lesenswertes ich in den letzten drei Jahren überblättern musste.
Und wenn Sie den Blick auf deutsche Innenpolitik richten, wird Ihnen da nicht bange?
Steinmeier: Ich schaue auf die Veränderungen in unserem Land mit einer Mischung aus Sorge und auch ein wenig Verwunderung. Denn ich stelle fest, dass es eine deutliche Differenz zwischen Fremd- und Eigenwahrnehmung gibt. Im Ausland gibt es Respekt und Bewunderung für unser Land. Es wird als Modell begriffen für politische Stabilität und wirtschaftliche Leistungsfähigkeit. Viele Deutsche dagegen blicken ängstlich auf die aktuelle Lage und die Zukunft. Die einen sorgen sich um den Frieden, andere um die innere Sicherheit, und die Dritten haben Angst um die Zukunft ihrer Kinder und Enkelkinder.
Sind das nicht berechtigte Ängste?
Steinmeier: Ja, ich sehe die Verunsicherungen der Menschen. Und nehme Sie vor allem ernst! Trotzdem müssen wir davor warnen, wenn sich manche ausgerechnet Erlösung von denjenigen erhoffen, die aus dieser Verunsicherung Kapital schlagen wollen, jene, die jeden Tag das Ende Deutschlands herbeireden. 70 Jahre Frieden und politische Stabilität sollten uns etwas mehr demokratisches Selbstbewusstsein geben.
Was stimmt Sie trotz dieser Untergangsstimmung vielerorten hoffnungsfroh?
Steinmeier: Was unsere Demokratie so stabil macht, ist, dass sie nicht nur auf politischen Institutionen und Personal ruht, sondern auf einem breiten Fundament von Verantwortung in Gestalt von Millionen von Ehrenamtlichen, die Verantwortung in der ganzen Breite der Gesellschaft übernehmen. All diese Menschen – ganz gleich ob bei der Feuerwehr, beim THW, im Sportsverein, den Kirchen, Hospizdiensten oder Flüchtlingsbetreuung – haben nicht nur ihr eigenes Wohl im Blick, sondern kümmern sich um andere.

Viele Menschen bedauern, dass Sie als Bundespräsident nun nicht mehr in der Tagespolitik mitmischen...
Steinmeier: Ein Bundespräsident hat nicht die operativen Möglichkeiten, auf die politischen Alltagsentscheidungen Einfluss zu nehmen, das ist mir bewusst. Ich habe mich nach 27 Jahren in der Politik, die meisten in Regierungsämtern, dennoch entschieden für diesen Weg. Denn der Bundespräsident ist nicht ohne Möglichkeiten, sie sind gleichwohl anders. Er lebt von der Autorität des Amtes und von der Glaubwürdigkeit seiner Person. Und auch von seiner Fähigkeit, Orientierung in mutigen Zeiten zu geben – gerade dann, wenn Demokratie und demokratische Verfahren von populistischen Kräften angegriffen werden.
Sie wollen die Menschen ermutigen, das politische Gespräch zu suchen und gemeinsam um gute Ideen für die Zukunft des Landes zu ringen. Aber man hat das Gefühl, viele wollen gar nicht ernsthaft mitreden...
Steinmeier: Das politische Gespräch verändert seinen Platz. Da, wo es vornehmlich in den großen Medien wie Fernsehen und Zeitung stattfindet, treffen wir heute auf jüngere Menschen, die sich dieser Medien gar nicht mehr bedienen. Wir erleben auf der einen Seite eine Veränderung der Medien, auf der anderen auch die Veränderung von Sprache. Leider ist es meine Erfahrung: Wo anonym kommuniziert wird, da gerät auch die Sprache schnell außer Kontrolle und verliert jedes Maß. Da werden hasserfüllte Kommentare getwittert, die man sich von Angesicht zu Angesicht nie sagen würde. Wissen Sie, wenn ich nach 16 Stunden Arbeit nach Hause komme und immer noch keine schlechte Laune habe, dann schaue ich auf die Kommentare auf Facebook – spätestens dann gelingt es.
Das geht nicht nur Ihnen so...
Steinmeier: Das glaube ich Ihnen. Wir müssen aber nicht nur fragen, warum uns das ärgert, sondern was sich in der Gesellschaft verändert, wenn das Ringen um Positionen nicht mehr unter verschiedenen beteiligten Gruppen stattfindet, sondern abrutscht in Anonymität, wo kein Austausch mehr stattfindet, wo jeder mit und in seiner Gruppe kommuniziert und nur noch nach Bestätigung und Bestärkung seiner Meinung sucht. Da liegt die wirkliche Gefahr. Ich werde als Bundespräsident deshalb das Gespräch mit der Gesellschaft, über Parteien und soziale Grenzen hinweg, vor allem mit der jüngeren Generation, noch einmal neu und breiter suchen. Schulen und Universitäten sind dafür ein guter Ort.
Beim Abschied im Bundestag haben Sie ein Bild bekommen – Willy Brandt, gemalt von Armin Müller-Stahl. Wo wird das Bild hängen?
Steinmeier: Ich wollte es im Schloss aufhängen, meine Frau wollte es zu Hause haben. Raten Sie mal, wer gewonnen hat.
Werden Sie denn gar nicht selbst ins Schloss einziehen?
Steinmeier: Nein. Unter den Bundespräsidenten hat nur Roman Herzog persönlich im Schloss gewohnt. Es wird ein schöner Arbeitsplatz sein – nicht nur äußerlich, was die Architektur und die Gartenanlage angeht. Ich bin sicher, es wird auch, was den Inhalt der Arbeit angeht, interessant und spannend werden. Ich bin jedenfalls neugierig darauf. Meine Freude ist groß, mein Respekt vor dieser Aufgabe ist jedoch noch viel größer.
Also bleiben Sie in Ihrem Haus in Zehlendorf wohnen. 2013 sagten Sie mal in einem Interview, dass dies Ihre Heimat sei – das hat mich als Brakelsiekerin etwas bestürzt.
Steinmeier: Das muss es nicht. Ich habe 14 Jahre in Hessen, 10 Jahre in Niedersachsen gewohnt und nun sind es mittlerweile 17 Jahre in Berlin. Ich habe immer versucht, mich auf Land und Leute einzulassen. Deshalb ist Berlin meine Wahlheimat. Die echte Heimat ist Lippe, und das bleibt auch so! Und manche behaupten, das würde man auch merken, denn bestimmte Prägungen aus der eigenen Jugend bleiben ja auch.
Zum Beispiel?
Steinmeier: Die Sturheit, die den Lippern nachgesagt wird. Ich finde das gar nicht unbedingt negativ. Eine gewisse Sturheit braucht man, wenn es gilt, Dinge durchzusetzen, die nicht im ersten oder zweiten Anlauf klappen. Das hat mir in den letzten Jahren in der Außenpolitik durchaus geholfen. Unsere sprichwörtliche lippische Bodenständigkeit sorgt ja auch dafür, dass wir uns nicht von jedem Wind umblasen lassen und auch nicht abheben, wenn es gerade gut läuft. Das gilt auch für unsere Art zu sprechen: Da ist wenig Platz für Prahlereien und Wolkenschiebereien. Davon haben die Menschen ohnehin genug.
Offenbar, in Umfragen sind Sie ja sehr beliebt...
Steinmeier: Erstaunlich, was? Aber die Menschen denken wohl anders als Journalisten. Es wird in der Öffentlichkeit immer nach Spektakulärem gerufen. Aber was sich die Menschen erwarten von jemandem wie mir, ist am Ende wohl doch eher die Ernsthaftigkeit und Glaubwürdigkeit.
Eine Ihrer besten Eigenschaften, sagt Ihre Familie, ist, dass Sie immer ruhig bleiben. Fahren Sie nie aus der Haut?
Steinmeier: Doch, aber ich bin fest davon überzeugt, wenn man das jeden Tag einmal macht, dann glaubt einem keiner, wenn man wirklich mal bis aufs Blut gereizt ist. Im Übrigen war und ist meine Maxime immer: Lass nie Deine schlechte Laune an den Mitarbeitern aus. Das ist nicht nur schlechter Führungsstil, man schadet sich langfristig auch selbst.
Und wie entspannen Sie sich?
Steinmeier: Sonntags der Tatort war früher mal ein Ritual, ist aber in der Außenminister-Zeit irgendwie abhanden gekommen. Entspannen kann ich mich schnell – auf vielfältige Art. Das erste, was ich als Außenminister lernen musste, war, dann zu schlafen, wenn Zeit ist – nicht unbedingt wenn Nacht ist. Also auch mal während einer längeren Autofahrt oder im Flugzeug. Zur Gelegenheitsentspannung gehört manchmal Sport im Fitnessstudio, manchmal ein Glas Rotwein und ein Buch.
Ich muss zur Entspannung nicht unbedingt allein sein. Ich liebe es auch, Freizeit in Gesellschaft zu verbringen. Gern gehe ich in die Berge, dort bekomme ich so eine richtige Tiefenentspannung. Mit der Familie machen wir eher die leichten Wanderungen und regelmäßig einmal im Jahr gehe ich mit zwei Freunden zum Bergsteigen.
Haben Sie einen Lieblingsplatz?
Steinmeier: In meiner Wahlheimat ein bestimmter Platz am Ufer der Havel. In meiner echten Heimat in Brakelsiek gibt es eine Bank hinter meinem Elternhaus. Sie steht zwischen dem ehemaligen Stall und dem Wohnhaus. Dort kann man im Sommer wunderbar sitzen und den Blick übers ganze Dorf auf Schwalenberg und das Mörth genießen. Ein schönes Plätzchen!
Wann werden Sie das nächste Mal dorthin kommen?
Steinmeier: Wenn nichts dazwischen kommt, werde ich Ostern dort sein.
Haben Sie wenigstens Souvenirs, die Sie im fernen Berlin an Lippe denken lassen?
Steinmeier: Ich habe einen kleinen Metall-Hermann, der stand links auf dem Fensterbrett neben meinem Schreibtisch im Auswärtigen Amt. Jetzt ist er dort drüben in einer der Kisten verpackt. Und, das muss ich Ihnen zeigen (holt sein Smartphone hervor) – hier, an unserer Eingangstür zuhause steht neuerdings dieser wunderbare Hermann – eine schöne Holzarbeit von einem Rentner aus unserm Dorf. Ein Weihnachtsgeschenk meines Bruders!