Kreis Lippe. Mit elf Jahren hat Zoe* einen neuen Namen bekommen. Den alten möchte sie weder hören noch lesen – denn dieser Name gehört nicht mehr zu ihr. Er beschreibt nicht annähernd, wer sie ist. Seit etwa einem Jahr steht in Zoes Geburtsurkunde unter Geschlecht ein neuer Eintrag: Der lautet „divers".
Warum heißt es dann „sie" in diesem Text? „Zum größten Teil bin ich ein Mädchen", sagt die Elfjährige selbstbewusst. Darum passe am besten das Pronomen „sie". Innerhalb der Familie greife man eher auf genderneutrale Pronomen wie „xier" zurück. Zoe ist einer der ersten Menschen in Lippe, die die dritte Geschlechtsoption gewählt haben. Seit Dezember 2018 ist das in Deutschland per Gesetz möglich. Für Zoe und ihre Familie ein bedeutsamer Schritt. Einer, mit dem sie sich lange auseinandergesetzt haben.
Verschmitzt lächelnd sitzt Zoe auf dem Sofa in der Wohnung eines Mehrfamilienhaus in Lippe. Ihren Namen hat sie sich selbst ausgesucht. „Meine Eltern haben mich früher oft Fee gerufen, das hat irgendwie gepasst", sagt die Elfjährige. Schon im Kindergarten habe sich Zoe an Karneval lieber als Müllerin verkleiden oder die Maria im Krippenspiel verkörpern wollen. Daran erinnern sich auch die Eltern. „Wir haben uns darüber damals keine Gedanken gemacht", sagt Natalie, die sich vor drei Jahren als Transfrau outete und biologisch Zoes Papa ist. „Kinder wollen alles sein: An einem Tag sind sie ein Schmetterling, am nächsten was anderes", sagt die 46-Jährige. Nur die männliche Rolle, die Zoe von Geburt an zugeordnet wurde, habe nie so recht zu ihr gepasst. Ganz beiläufig fiel dann zum ersten Mal der Satz, der erst viel später Bedeutung erlangte. „Ich bin kein Junge", merkte das Kind ganz nebenbei an. „Das haben wir noch einfach so zur Kenntnis genommen", erinnert sich die 36-jährige Hannah, Zoes Mutter. Damit war das Thema vom Tisch – vorerst.
Doch mit der Zeit setzte sich Zoe immer ernster mit der eigenen Identität auseinander. „Irgendwann lag ich im Bett und dann wusste ich es einfach", sagt die 11-Jährige heute. Dass sie so ist, wie sie ist – aber eben nicht mehr diese vorgesetzte Rolle spielen möchte. Die Gespräche innerhalb der Familie wurden fortan ernster. „Wir haben uns zusammengesetzt, geredet und gefragt: Müssen wir etwas verändern?", sagt Natalie.
Weil der Gedanke Zoe nicht mehr los ließ, holte sich die Familie professionelle Hilfe. Es war wichtig abzuklären, ob Zoes Gefühle tief verankert oder eben nur eine Laune waren. Die Ärzte der Uniklinik Münster stellten bei Zoe nach mehren Sitzungen schließlich eine „Variante der Geschlechtsidentität" fest, erzählen die Eltern. Die Diagnose war der Schlüssel, um beim Standesamt die Geburtsurkunde und eine Namensänderung zu beantragen.
"Standesamt war überfordert"
Ein klein wenig überfordert hätte die lippische Behörde dann schon gewirkt, als Familie im April 2019 plötzlich mit der ärztlichen Bescheinigung vor der Tür stand. „Kein Wunder. So viele Menschen nutzen die Möglichkeit wohl nicht", sagt Natalie. Mit der Vermutung liegt die Transfrau richtig. Seit der Gesetzesänderung hätten weniger als fünf Menschen ihr Geschlecht in Lippe geändert, heißt es dazu vom Kreis Lippe. Darunter fallen auch Änderungen von weiblich auf männlich oder umgekehrt – und eben auch die Eintragung divers. Höchstwahrscheinlich ist Zoe sogar der einzige Mensch in Lippe, der nun ganz offiziell als divers gilt. Der Kreis wollte dies aus Datenschutzgründen aber nicht bestätigen.
Die Kategorie „divers" beschreibt Menschen, die weder dem weiblichen noch dem männlichen Geschlecht zugeordnet werden können. Damit gilt das Gesetz ursprünglich als Lösung für Intersexuelle, die mit beiden biologischen Geschlechtsmerkmalen geboren wurden. Für Zoe könnte das diverse Geschlecht so etwas wie eine Übergangslösung bedeuten. „Unser Kind hat jetzt die Chance, sich völlig frei zu entwickeln", sagt Natalie. „Ohne in eine vorgefertigte Geschlechterrolle gepresst zu werden." Alle sechs Wochen gehe es auch weiter zur Uniklinik, damit Zoes Weg therapeutisch begleitet werden kann.
Für Zoe hält das neue Leben bisher nur Vorteile bereit. „Ich kann viel leichter Freunde finden", sagt sie: „Und meine Mitschüler akzeptieren mich einfach so wie ich bin." Seit dem neuen Schuljahr geht die Elfjährige auf eine weiterführende Schule in Lippe. „Die Offenheit hier ist fantastisch", sagt Natalie. Für Zoe sei sogar eine separate Umkleidemöglichkeit geschaffen worden. Natürlich gäbe es trotzdem ab und zu einen blöden Spruch, aber das gehöre nun mal zum Leben dazu, findet Zoe. „Das war vorher ja nicht anders."
Für die Eltern ist es entscheidend, dass Zoe ganz und gar sie selbst sein kann. Auch die drei Geschwister seien auf ihrer Seite, auch wenn die große Schwester anfangs Schwierigkeiten mit dem neuen Namen gehabt habe. Bedenken, die Elfjährige hätte sich möglicherweise Natalies Outing als Transfrau zum Vorbild genommen, wurden nicht zuletzt durch die Einschätzung der Ärzte und die eigenen Erinnerungen an Erlebtes zerstreut. „Trans zu sein und alles, was es bedeutet, habe ich meinen Kindern nie gewünscht", sagt Natalie. Doch Zoe soll die Chance bekommen, ihren eigenen Weg zu finden, ohne sich verstecken zu müssen. Nach dem Einsetzen der Pubertät könne die Elfjährige dann entscheiden, ob sie eine Hormontherapie beginnen wolle. Sollte Zoe sich doch umentscheiden, könne der Eintrag leicht rückgängig gemacht werden. Doch Zoe ist glücklich, sagt sie. Und das liege nicht nur am neuen Namen.
*Alle Namen von der Redaktion geändert.
Ist mein Kind divers?
Ein Junge, der sich gerne mal als Prinzessin verkleidet oder ein Mädchen, das viel lieber ein Bauarbeiter wäre – für das Kind muss dass nicht gleich bedeuten, im falschen Körper zu stecken. Doch wie kann ich als Elternteil zwischen spaßigem Verkleiden und falscher Geschlechtsidentität unterscheiden? Für Dr. Ulrich Preuss, Chefarzt der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie in Bad Salzuflen, gibt es dafür klare Anzeichen. „Rollenspiel ist ein Spiel. Es entsteht kein Leidensdruck, die Rolle kann nach Spielende sofort und ohne Übergang aufgegeben werden", sagt er.
Charakteristisch für ein Spiel sei eben seine Unverbindlichkeit, die aus gutem Grund nicht beständig sei. Doch wenn beim Kind das Erleben einer Diskrepanz zwischen zugewiesenem und empfundenem Geschlecht dauerhaft anhalte, müsse man dieses Empfinden als Elternteil ernstnehmen. Wichtig sei, den Kindern zuzuhören und sich als Elternteil nicht gekränkt zu fühlen. „Es ist und bleibt das Kind seiner Eltern, egal welches Geschlecht", sagt Preuss. Sein Tipp: Zu einer Beratungsstelle gehen. Dies sei in erster Linie für die Eltern wichtig.
Eltern könnten vor allem an der Entschlossenheit des Nachwuchses, die aktuelle Geschlechterrolle abzulegen oder am Verlangen, wie das andere Geschlecht behandelt zu werden, den „Ernst" der Lage erkennen. „Einen biologischen Marker gibt es nicht", sagt Preuss. Die Sicherheit ergebe sich aus den Aussagen und Wünschen des Nachwuchses. Genderqueerness, die nicht in die gängige Geschlechternorm passe, kennzeichne sich zudem dadurch, dass sich Personen weder exklusiv männlich oder weiblich wahrnehmen. Dies sei ein sehr subjektives und für die Person deutliches Empfinden, das schon im Kindesalter auftrete und sich mit dem Älterwerden in der Regel verstärke.
Drittes Geschlecht als Schlupfloch für Trans
Die Einführung der dritten Geschlechtsoption nutzen auch immer mehr Transmenschen, um ihren Personenstand auf weniger komplizierten Wege ändern zu lassen. Für den Antrag zur dritten Geschlechtsoption reicht die Bescheinigung eines Arztes aus, der eine "Variante der Geschlechtsentwicklung" attestiert - ohne weitere Begründung. Bei Transmenschen ist das Verfahren langwieriger. Bis zu zwei Jahre kann es dauern, bis die Änderung des Geschlechts offiziell anerkannt wird, weiß Transfrau Natalie aus eigener Erfahrung. Da mehrere psychologische Gutachten notwendig sind, ist der Prozess für Trans langwierig und teuer. Die dritte Geschlechtsoption sei daher für viele ein Schlupfloch, das den Menschen ein paar gewaltige Hürden aus dem Weg räume.
Verärgert hat dies das Bundesinnenministerium unter Horst Seehofer zur Kenntnis genommen. Seehofer kritisierte in einem öffentlichen Rundschreiben an die Standesämter zuletzt scharf, dass Transmenschen den Eintrag "divers" für ihre Zwecke nutzen würden. Im Gesetz sei ausdrücklich verankert, dass die Neuregelung ausschließlich für Intersexuelle gelte, die biologisch beide Geschlechtsmerkmale aufweisen. Bei Trans sei dies anders, weil sie sich ihrem angeborenen biologischen Geschlecht nicht zugehörig fühlten. Der Bundesinnenminister wies daher Standesämter an, Transsexuelle von dieser neuen Regelung auzuschließen.
Ein Gutachten des Familienministeriums aus Dezember 2019 widerspricht der Auffassung des Innenministeriums deutlich. Demnach sind Transgeschlechtlichkeit und auch eine nicht-binäre Geschlechtsidentität von dem Begriff "Varianten der Geschlechtsentwicklung" sehr wohl umfasst, der die Grundlage des neuen Personenstandsrecht bildet. Daher sei es nach Auffassung des Gutachtens nicht rechtmäßig, Transmenschen von diesem Gesetz auszuschließen.
Auf Anfrage der LZ wies ein Sprecher des Bundesinnenministeriums darauf hin, dass das Gutachten des Familienministeriums nur die Auffassungen der Autoren widerspiegele. In der Rechtspraxis sollten im Einzelfall die zuständigen Gerichte über Auslegungsschwierigkeiten entscheiden. Die Auffassung des Bundesministeriums des Innern, für Bau und Heimat habe sich durch das genannte Gutachten nicht geändert. Für transsexuelle Menschen gelte aktuell daher weiter allein das Transsexuellengesetz.
"Geschlecht ist mehr als das"
Ein Kommentar von Janet König
Das Leben lässt sich nicht immer in klare Kategorien einordnen. Wir müssen uns endlich davon lösen, Geschlecht einzig nach biologischen Merkmalen zu beurteilen. Ein angeborener Penis macht einen Menschen nicht automatisch zu einem besseren Mann – ein Busen nicht zu einer richtigen Frau. Geschlecht ist viel mehr als das – und es wird zur inneren Zerreißprobe für diejenigen, deren Identität nicht annähernd in die dafür vorgefertigten Rollenbilder passen will.
Der Schritt der Bundesregierung, mit dem Personenstandsgesetz endlich auch in Deutschland ein unbestimmtes Geschlecht anzuerkennen, ist ein wichtiger, der schon lange überfällig war. Und dennoch ist er nicht zeitgemäß umgesetzt, denn hoch offiziell gilt die dritte Option ausschließlich für Intersexuelle. Dabei gibt es genug Menschen, die ihre eigene Geschlechtsidentität weder exklusiv männlich noch weiblich erleben. Diesem inneren Empfinden sollte genauso viel Beachtung geschenkt werden wie einer körperlichen Entwicklung.
Daher ist es fast tragisch, wie sehr sich das Bundesinnenministerium dagegen wehrt, die Rechte von Transmenschen zu lockern. Keiner lässt langwierige, teure Hormontherapien und schmerzhafte Operationen einfach zum Spaß über sich ergehen. Da sollte der Gesetzgeber doch zumindest ein paar Hürden nehmen, um das aus Sicht der Betroffenen unpassende Geschlecht aus der Geburtsurkunde zu streichen.