Lernen, nicht abnehmen zu müssen: Wie eine 16-Jährige mit ihrer Essstörung kämpft

Detmold. Da sitzt sie in ihrem gemütlich wirkenden grauen Kapuzenpulli mit Micky-Maus-Aufdruck. Freundlicher, fester Händedruck, offenes Gesicht. Eine auf den ersten Blick gesunde 16-Jährige - ein Mädchen aber mit jahrelanger Therapieerfahrung, ambulant und stationär mit Aufenthalten in der Kinder- und Jugendpsychiatrie Bad Salzuflen, in einer Rehaklinik und in der Kinder- und Jugendmedizinischen Klinik des Klinikums Lippe in Detmold. Hier erzählt Clara, die in Wirklichkeit anders heißt und nicht fotografiert werden möchte, von ihrer Krankheit, die sie erneut - diesmal für 14 Tage - hierher geführt hat. Erzählt von einer Magensonde, von plötzlichem Heißhunger und einem so niedrigen Blutdruck, dass die Eltern um ihr Leben fürchteten. Clara leidet an einer Essstörung.

&bdquo;Es war immer ein Kampf mit dem Essen ...", eröffnet sie das Gespräch, in dessen Verlauf sie sich äußerst reflektiert zeigen wird. Sie ist sich ihrer Krankheit und eben dieses schweren Ringens damit offensichtlich voll bewusst, &bdquo;... und irgendwann bin ich gar nicht mehr zurechtgekommen."

Eine klare Antwort gibt es nicht Sie blickt zurück, versucht, die Ursachen zu benennen. Als Elf-, Zwölfjährige habe sie sich schon zu dick gefühlt. Das Warum ist für sie offensichtlich schwierig zu beantworten und erfordert sicherlich noch harte Therapiearbeit, und die eine Antwort kann es wahrscheinlich gar nicht geben. Clara ist sich darüber im Klaren: &bdquo;Den einen Auslöser weiß ich nicht." Sie sagt, sie sei sehr sensibel, erzählt von diffusen Ängsten in der Kindheit, von nicht recht zu benennenden Unsicherheiten, von Überforderung in der Schule. Von zu viel Freizeitstress (Jugendgruppe, Reiten, Sport), von zu wenig Zeit für sich. Dies habe sie mit Essen kompensiert. Gleichzeitig gefiel ihr nicht, was sie im Spiegel zu sehen bekam.

Dann kam Corona und mit ihrer Covid-Infektion der Gewichtsverlust. &bdquo;Ich habe abgenommen und mich gut damit gefühlt. Habe bald zu Hause gar nichts mehr gegessen. Abzunehmen tat mit gut. Ich habe mir immer allerdings eingebildet, ich kann damit wieder aufhören." Konnte sie aber nicht.

Die Schuldgefühle sind riesig Es geht in die Klinik. Clara isst aber auch dort nichts, bekommt eine Magensonde. &bdquo;Ich wusste gar nicht, was das ist. Aber ich konnte ja nun mal einfach nichts zu mir nehmen." Blutdruck und Herzfrequenz sind auf einem extrem niedrigen Level, das Krankenhaus behält das Mädchen gut im Blick. &bdquo;Ich durfte nicht nach Hause. Mama hatte Angst, dass ich einfach aufhöre zu atmen", erzählt sie dem fremden Reporter mutig - und beginnt zu weinen.

Die Therapeutin in der Klinik muss die Besuche von Mutter und Vater regeln, die Scham ist riesig, das Selbstwertgefühl am Boden. &bdquo;Ich wollte nicht mit meinen Eltern reden. Nicht wegen ihnen, wegen mir." Nun, eine Sonde ist keine Therapie, die die Ursachen der Magersucht anpackt. &bdquo;Das haben die in der Klinik aber nicht gerafft", wird Clara, durchaus wohltuend, zornig. Die richtige Therapie mit der richtigen Therapeutin findet sich nicht oder will vielleicht noch nicht gefunden werden. Hinzu kommt, dass andere Patientinnen in einem anderen Stadium der Krankheit anders drauf sind, Fortschritte machen, viel Sport treiben und Clara mitmacht &bdquo;bis ich nicht mehr konnte". Sie will (muss) sich mit ihnen messen. Die Folge: Schuldgefühle. Was für ein Kreislauf. Es folgt eine Reha in Bad Oeynhausen, die sie aufgrund fehlenden Willens abbrechen musste. Daraufhin geht sie für ihren ersten zehnwöchigen Aufenthalt nach Detmold in die Klinik.

Sie findet keine Routine Es folgen kräftezehrenden Schwankungen, Heißhunger, plötzlich isst sie Unmengen, erbricht es wieder. Und zwar isst sie nicht die dicke Tafel Schokolade oder die Gummibärchen-Tüte auf einmal auf, wie der Reporter naiv fragt, sondern ganz normale Sachen. Nüsse. Haferflocken. In Mengen. Nimmt wieder zu. &bdquo;Das wollte ich aber auch nicht, das war mir unangenehm. Ich habe aber keine Routine geschafft. Nie mein Kalorienziel erreicht." Denn welches Essen wie viel Kalorien hat, das weiß sie genau, da ist sie Fachfrau.

Dazu kommt die Scham. &bdquo;Wenn du es nicht schaffst, abzunehmen, bist du die Hilfe nicht wert" - von dem Gedanken ist sie nicht abzubringen. In der Schule häufen sich 260 Fehlstunden an. Clara muss die Klasse wiederholen, neue Freunde suchen. Der Körper ist groggy, Geist und Seele erschöpft. Clara sollte sich nicht so auf die Zahlen auf der Waage fokussieren, die Therapeuten empfehlen, sich zu Hause nicht mehr zu wiegen.

Ein halbes Jahr in der Klinik Clara nimmt schließlich die Hilfe der Eltern an. Mit ihnen habe sie immer über alles geredet. Es folgt ein halbes Jahr in der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin in Detmold mit Ernährungsberatung, Physio- und Ergotherapie, Gruppen- und Einzeltherapie, therapeutischem Kochen. Zwei bis drei Stunden am Tag ist Unterricht in der Krankenhausschule - auch, um der Schulpflicht nachzukommen. Ein Lehrer unterrichtet die sechs Patientinnen in kleinen Gruppen möglichst passgenau.

Seit einigen Wochen ist Clara nun zu Hause und auf einer neuen Schule, aktuell allerdings für 14 Tage zur Stabilisierung wieder in der Klinik. Sie freut sich dann auf Mama und Papa und die ältere Schwester, die ihr, als sie drei Monate im Ausland gewesen sei, sehr gefehlt habe.

Jahrelange Therapie Ambulante Psychotherapie steht für Jahre weiter an, Ursachenforschung, den Umgang mit der Krankheit lernen, dazu kommen können, mal wieder in Ruhe ein Buch lesen zu können. Sie hat sich viel mit dem Thema auseinandergesetzt; weiß vom Kopf her um die &bdquo;Körperschema-Störung", wie sie es als Fachfrau benennen kann - der Fehlwahrnehmung des eigenen Körpers. &bdquo;Ich denke ja nur, ich bin dick." Diesen Gedanken allerdings auch verinnerlichen zu lernen, ist harte Arbeit. In den Spiegel zu blicken mag sie noch nicht. Aber sie bleibt selbstbewusst: &bdquo;Denn ohne Kraft und ohne Wille klappt nichts. Ich muss damit leben lernen. Den Punkt werde ich erreichen, auch wenn es Schwankungen gibt. Diese Krankheit wird Teil meines Lebens bleiben."

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