Lemgo. Warum die fremde Frau so offen mit ihm sprach? Das weiß Jens-Dieter Rahn bis heute nicht. Sie habe Krebs, erzählt die Frau im Lemgoer Klinikfoyer. Sie mache eine Chemotherapie, sagt sie, und habe sich überrollt gefühlt, als Perückenmacher zu ihr kamen. Vor lauter Überforderung habe sie falsche Wimpern gekauft, Schminke, eine Perücke. Als ihr die Haare ausfielen und sie die Perücke trug, habe sie sich unwohl gefühlt. Die Farbe habe nicht gestimmt, das künstliche Haar sich fremd angefühlt.
„Das war 1995 und der Startschuss für mein Perückenangebot", erinnert sich Rahn. Seitdem empfängt er jährlich mehr als 200 Frauen in seinem Friseurgeschäft im Lemgoer Klinikum Lippe. Zu ihm kommen Frauen, die ihre Haare verlieren, ungewollt, durch Chemotherapien, durch Stress, durch Traumata. Sie sitzen an seinem Frisiertisch, viele haben Glatzen, keine Wimpern, keine Augenbrauen, keine Härchen an den Armen. Es sind Frauen, die Blicke von Fremden fürchten. Mitleidige Blicke, betretene Blicke. Es sind Frauen, von denen die jüngste zwölf Jahre alt ist – sie hat Leukämie.
Am Samstag, 29. Oktober, können Langhaarige ihre Zöpfe von 9 bis 12 Uhr im Salon von Jens-Dieter-Rahn im Klinikum Lemgo (Rintelner Str. 85) für einen guten Zweck spenden. „Die Spender bekommen alle eine ordentliche Frisur", so Jahn. Die Haare werden an Perückenhersteller verkauft und der Erlös geht an die Krebshilfe. Voraussetzung: 30 Zentimeter lang müssen die Haare sein. Anmeldung unter Tel. (05261) 264277 oder einfach vorbeikommen.
Die Arbeit von Rahn beginnt oft mit einer zögerlichen Stimme am Telefon: „Ich habe Haarprobleme... vielleicht können Sie da mal draufschauen?" Was die Stimme meistens meint: „Ich bin krank, ich brauche Haare." Aber das sagt keiner. Im Schutz seines Büros sieht der 65-jährige Friseurmeister dann, was manchmal nicht mal der eigene Mann sehen darf: kahle Köpfe, die ansonsten von Mützen bedeckt werden, von Tüchern oder Schals. Er hört Geschichten, die die Frauen nur sehr wenigen erzählen.
Geschichten wie die von Ines Schmitz aus Detmold, die ihren echten Namen samt Wohnort nicht nennen möchte. Die Diagnose vor fünf Jahren: Brustkrebs. Es folgten Operationen, Chemotherapien und Tabletten.
Die 62-Jährige weiß, wie sich das anfühlt: Der Moment, wenn morgens plötzlich viele Haare auf dem Kopfkissen liegen. Die immer dickeren Haarnester im Abfluss der Dusche. Die bunten Tücher, die ihren nackten Kopf schützen, vor den Blicken der Fremden. Sie will nicht ständig auf den Krebs angesprochen werden, nicht die Irritation in den Gesichtern sehen, nicht ständig gefragt werden, wie es ihr gehe.
„Ich weiß nicht, ob ich den Krebs besiege", sagt die Rentnerin. Aber sie will die Zeit, die sie hat, leben und was erleben. Die Perücke hilft ihr dabei, weil sie suggeriert, was nicht mehr da ist: Normalität. Genau dafür liebt Ines Schmitz die Perücke.
14 bis 21 Tage nach der ersten Chemotherapie fallen Krebspatienten die Haare aus. Das ist der Moment, den Perückenexperte Rahn abwartet. Nicht weil die Haare dann besser aussehen. Sondern weil sich die Frauen einfacher von ihnen trennen können. Einen Zentimeter über der Kopfhaut schneidet er die Haare ab.
Einige Frauen schämen sich so sehr, dass sie sich nicht mehr aus dem Haus trauen. Eine Kundin erzählte Rahn, sie kaufe nur noch Konzert- und Kinokarten, wenn sie sichergehen könne, dass sie in der letzten Reihe sitzen könne. In seinem Laden, sagt Rahn, sollen sie spüren: Okay, die Krankheit ist doof, sie bleibt doof – aber mit einer Perücke, die sich gut anfühlt, kann ich mit ihr leben.
Der 65-jährige Rahn, der mit vier Angestellten seit 22 Jahren den Friseurladen im Klinikum Lemgo führt, versucht, in Farbe und Form so nah wie möglich ans Originalhaar zu kommen. Einmal sagte eine Kundin zu ihm: „Mit deiner Perücke bin ich so herrlich unsichtbar." Rahn liebt diesen Satz. Er ist das schönste Kompliment. Ines Schmitz Kunsthaarperücke hat kinnlanges, blondes Haar. Wenn sie in den Spiegel schaut, denkt sie: „Das bin ich."
Das Ich wiederzuentdecken, hat seinen Preis: Eine gute Kunsthaarperücke kostet 350 bis 400 Euro. „Die Kosten übernimmt die Krankenkasse", fügt er hinzu. Echthaarperücken sind noch teurer, 1000 bis 4000 Euro.