Votum gegen den Ausbau: Das Industriegebiet Lieme sieht Rot vor lauter Grün

Lemgo. Denkbar knapp hat der Haupt- und Finanzausschuss die geplante Erweiterung des Gewerbegebiets Lemgo-West in Lieme vom Tisch gefegt. Zumindest in der bislang geplanten und schon sicher geglaubten Form. Wortwörtlich lautet der Beschluss: Der Ausgleichsstreifen, das sogenannte Wäldchen, soll nicht abgeholzt werden. Ohne die Buschreihe zu roden, das hatte Kämmerer Dirk Tolkemitt zuletzt gebetsmühlenartig wiederholt, sei der Anbau weiterer Industrieflächen aber nicht möglich.

In einer für Lemgoer Verhältnisse außergewöhnlich leidenschaftlichen Diskussion versuchte die CDU hartnäckig, Treue zum Grundsatzbeschluss des Stadtrates von 2016 einzufordern. Der da lautet: Mit zehn Hektar geht es Richtung Hengstheide weiter. Als das Erinnern nicht half, wollten die Christdemokraten die drohende Niederlage mit einem Kniff abwenden: Veronika Sauerländer, als Chefin des Wirtschaftsausschusses selbst maßgeblich an den Planungen beteiligt, wollte geheime Abstimmung. Und bekam sie auch.

Zehn Mitglieder stimmen für den SPD-Vorschlag Bürgermeister Dr. Reiner Austermann ließ sein Verwaltungsteam kurzerhand eine provisorische Wahlkabine errichten. Ergebnis: Immerhin ein Mitglied des Haupt- und Finanzausschusses außerhalb der geschlossen hinter der Erweiterung stehenden CDU- und FDP-Phalanx lehnte den Antrag der SPD auf Erhalt des &bdquo;Wäldchens" ab.

Doch es reichte nicht: Zehn Ja-, acht Nein-Stimmen und eine Enthaltung für den SPD-Vorschlag schrieben dem Beigeordnetem Dirk Tolkemitt den Schock ins Gesicht: Hatte der Kämmerer doch Minuten zuvor noch gewarnt: &bdquo;Ohne den Ausbau gibt es keine weitere wirtschaftliche Entwicklung für Lemgo – und das in den kommenden zehn Jahren."

"Megatrend Klimaschutz" für Kurswechsel ausschlaggebend? In der Tat stehe die Rettung des &bdquo;Wäldchens" in Konkurrenz zum Grundsatz-Votum pro Erweiterung, räumte SPD-Fraktionschef Udo Golabeck ein. Den Kurswechsel ordnete er unter dem &bdquo;Megatrend Klimaschutz" ein. Viel sei von Klimawandel, Schädlingen und Trockenheit im Wald die Rede. Golabeck: &bdquo;Unser Antrag heißt: mehr gute Luft für alle. Wir senden das Signal an die Klimaschützer auf den Straßen: Die Politik tut etwas."

Da mochte die Verwaltung mit Blick auf die umstrittene Ausgleichsfläche noch so sehr von einem &bdquo;Inselbiotop" (Tolkemitt) sprechen, das zwar als Sichtschutz für die Hengstheider diene, aber ökologisch anderswo einfach ersetzbar und besser aufgehoben wäre.

Das habe auch der Forst-Chef Hans-Friedrich Meiercord bestätigt, verwies der Kämmerer auf Expertenstimmen, denen sich Barbara Schiek-Hübenthal (FDP) anschloss: &bdquo;Das ist kein einzigartiges Biotop – hier findet keine Artenwanderung statt. Dagegen stehen die Jobs der Zukunft." Gegenüber früheren Planungen war am Montag gar von einem Ersatz-Sicht- und Lärmschutz für den Weiler Hengstheide die Rede.

&bdquo;Dann kann ich nur sagen: armes Lemgo" Doch die &bdquo;Bürger für Lemgo" (BfL) als wichtiges Zünglein an der Waage vermochte nicht einmal die leidenschaftliche Zwischenfrage des Bürgermeisters &bdquo;Wo? Wenn nicht da: Wo?" denn Lemgo künftig Industrieflächen anbieten wolle, umstimmen. &bdquo;Bei 300 Hektar kann unser Wohl doch nicht von dieser Mini-Fläche abhängen", kritisierte BfL-Fraktionschef Wolfgang Sieweke scharf. &bdquo;Dann kann ich nur sagen: armes Lemgo."

Mit Wolfgang Sieweke trat auch Detlef Höltke (Die Grünen) für ein Ende des &bdquo;ungezügelten Flächenverbrauchs" ein: &bdquo;Es ist unsere Pflicht, noch etwas für kommende Generationen übrig zu lassen." Das drohende Ende des Wachstums durch Neuansiedlungen in Lieme zu kompensieren, während stadtnah in der Grevenmarsch die Leerstände zunähmen, sei widersinnig.

CDU-Mann Friedrich Remmert erinnerte die am Montag stark aufgestellte Gegenseite daran, dass Wohltaten – auch im Bereich Soziales – nur möglich gewesen seien aufgrund der guten wirtschaftlichen Entwicklung. &bdquo;Unsere Situation ist nur so gut, wie sie ist, weil sich Betriebe ansiedeln konnten, die heute Gewerbesteuer zahlen", betonte Christdemokrat Friedrich Remmert.

Zudem argumentierte Tolkemitt, dass Lieme gerade das Gegenteilung von Zersiedelung bedeute. Wenn das Industriegebiet eines Tages als interkommunale Fläche auf Bad Salzufler Stadtgebiet weiter wachse, sei das eines von nur drei Industriearealen in ganz Lippe, das eine Zukunft habe. &bdquo;Wenn Sie sich nun dem Mainstream beugen", spielte der Beigeordnete Tolkemitt auf die Bewegung &bdquo;Fridays for Future" an, &bdquo;werden Sie mit Einschnitten leben müssen".

Bürgerinitiative ist begeistert Der Jubel ist groß – die Erleichterung auch. &bdquo;Wir sind begeistert", sagt Christian Fietzeck und spricht damit für die Bürgerinitiative Hengstheide. Die macht sich seit Monaten gegen den Ausbau des Industriegebiets West und im Besonderen gegen die geplante Abholzung des Wäldchens stark. Das soll jetzt erhalten bleiben, damit steht die ganze Erweiterung in Frage.

&bdquo;Ein Meilenstein", sagt Christian Fietzeck, der von der Entscheidung auch den Verbleib in Hengstheide abhängig macht. &bdquo;Industriebetrieb, sieben Tage die Woche direkt vor der Haustür können wir unseren Kindern nicht zumuten."

Bezahlt gemacht habe sich die beharrliche Öffentlichkeitsarbeit der Initiative, die alle Fraktionen eingeladen hatte, sich vor Ort ein Bild zu machen. Und das, ist Fietzeck überzeugt, habe bei vielen zum Umdenken geführt. Die äußerst knappe Entscheidung im Hauptausschuss führt er auch auf die geheime Wahl zurück, &bdquo;Die hat uns letztlich in die Karten gespielt."

Die Bürgerinitiative Hengstheide will jetzt am Ball bleiben und die weiteren Planungen kritisch begleiten. 71 Bürger aus der Hengstheide stehen hinter der Initiative, darüber hinaus aber seien auch viele Liemer, Lemgoer oder auch Bürger aus Bad Salzuflen dabei. Eine Kooperation mit einer Initiative aus Jerxen-Orbke sei zudem geplant. Es gebe regelmäßige Treffen, ein gemeinsames Konto und auch ein Rechtsbeistand stehe bereit, so Fietzeck.

"Willkommen im Wahlkampf" Ein Kommentar von Till Brand

An den Gesichtern für die Kampagnen, Bürgermeister- oder Spitzenkandidaten fehlt es noch. Thematisch hat am Montagabend aber zweifelsohne der Wahlkampf begonnen. Ein Dreivierteljahr bevor es an die Urne geht, haben sich die Politiker in einer Sache verhakt, die in normalen Zeiten mit einer interfraktionellen Runde auf jeden Fall geräuschloser, vielleicht gar zur Zufriedenheit aller gelöst worden wäre.

Denn mal ehrlich: Den Ausgleichsstreifen als grüne Lunge Lemgos darzustellen, ist ebenso übertrieben, wie an der nur wenige Hektar starken Erweiterung des Gewerbegebiets das wirtschaftliche Wohl der Stadt festzumachen. Sollte eines Tages tatsächlich ein interkommunales Industrieareal zwischen Lemgo und Bad Salzuflen wachsen, wird dies wohl kaum an dem beerdigten Streifen scheitern.

Der vor drei Jahren per Grundsatzbeschluss eigentlich unter Dach und Fach gebrachte Anbau ans Industriegebiet ist das erste Opfer des Wahlkampfs. Dazu hat sicher das Erstarken der Klimaschutz-Bewegung beigetragen. Unumwunden sieht SPD-Fraktionsboss Golabeck ein Signal an &bdquo;Fridays for Future": quasi ein &bdquo;Wir haben verstanden."

In der Sache kann man den &bdquo;Schutzbeschluss" für das &bdquo;Wäldchen" gut finden oder nicht. Was man nicht vergessen darf: Mit dem Schwenk vom Montag ist ein Versprechen der politischen Mehrheit verbunden. Und zwar, nicht auf Gedeih und Verderb weitere Flächen zu opfern. Das wirtschaftliche Wohl der Stadt nicht über alles zu stellen.

Mit diesem Ansatz, den die Grünen schon zu Zeiten des Grundsatzbeschlusses vor drei Jahren verfolgten, gehen nun auch SPD und BfL im Becken von &bdquo;Fridays for Future" fischen. CDU und FDP hingegen sagen klar: Zuerst muss es mit der Wirtschaft stimmen, sonst fehlen Steuereinnahmen, um den Rest zu stemmen.

Die Wähler haben das Recht zu entscheiden, aber auch, die Mandatsträger an ihre Versprechen aus dem Wahlkampf zu erinnern. In Lemgo haben am Montag beide Flügel die Messlatte verdammt hoch gelegt. Die Rückkehr zur Sachpolitik – mit einem neuen Stadtrat, mit neuen &bdquo;Koalitionen" – dürfte spannend werden.

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