Lippische Landes-Zeitung: Nachrichten aus Lippe, OWL und der Welt

Kleine müssen Gefahren erkennen

Zwei Expertinnen äußern sich anlässlich des Kindersicherheitstages

Von Judith Stracke

Kleine müssen Gefahren erkennen - © Lippe
Kleine müssen Gefahren erkennen (© Lippe)

Lemgo. Der 10. Juni ist Kindersicherheitstag. Im Mittelpunkt stehen unter dem Slogan "Von Null auf sicher" Säuglinge und Kleinkinder. Sie haben das höchste Risiko, an den Folgen eines Unfalls zu sterben.

Was kann man tun, um Unfälle zu vermeiden? Warum steigt die Unfallrate der Null- bis Dreijährigen alarmierend an? Aike Overdiek-Spilker, seit 25 Jahren Montessori-Pädagogin und stellvertretende Leiterin des Montessori- Kindergartens in Lemgo, und Petra Kammler, 15 Jahre lang Leiterin einer Kinder-Spielgruppe im Alter von anderthalb bis drei Jahren sowie pä­dagogische Fachkraft im Bereich der unter Dreijährigenbetreuung in der Einrichtung, standen der LZ Rede und Antwort. Beide Expertinnen haben selbst drei Kinder groß gezogen.

So klappt es: Ein paar selbst genommene Treppen zum Wickeltisch geben Lea (2) Sicherheit. Aike Overdiek-Spilker (links) und Petra Kammler freut es genauso wie Gülcan (3). - © Foto: Stracke
So klappt es: Ein paar selbst genommene Treppen zum Wickeltisch geben Lea (2) Sicherheit. Aike Overdiek-Spilker (links) und Petra Kammler freut es genauso wie Gülcan (3). (© Foto: Stracke)

In einer Zeit, in der in die Säuglingserstausstattung teilweise mehr investiert wird als in einen Kleinwagen, schätzen Experten, dass 60 Prozent aller Kinderunfälle vermeidbar sind. Hätten Sie das gedacht?

Aike Overdiek-Spilker: Es überrascht mich nicht und Denken ist in dem Zusammenhang ein passendes Stichwort. Wir denken viel zu leistungs- und zu wenig entwicklungsorientiert. Wir bieten unseren Kindern alles an, diskutieren vieles, aber nehmen ihnen dabei wichtige Erfahrungen und hemmen so eine kindgerechte Entwicklung - vor allem die für das Körpergefühl.

Nennen Sie konkrete Beispiele dafür…

Petra Kammler: Wir setzen Kinder in den Maxi-Cosi oder den Einkaufswagen, obwohl sie noch gar nicht sitzen können. Wir stellen sie auf die Beine, obwohl sie noch krabbeln. Und wenn sie stolz sind, weil sie ihr Dreirad sicher beherrschen, kaufen wir sofort ein Fahrrad und bauen Stützräder an, weil wir nicht warten wollen, bis sie für den nächsten Entwicklungsschritt reif sind.

Klingt nach schneller, höher, weiter…

Kammler: Ja, Leistung und Förderung stehen heute bereits im Säuglingsalter im Mittelpunkt. Übertrieben gesagt, wir machen uns schon gleich nach der Geburt unserer Kinder Gedanken über die Schule statt ihnen Zeit zu geben, natürliche Entwicklungsstadien zu erleben und zu durchlaufen.

Was sind solche Entwicklungsstadien?

Overdiek-Spilker: Kinder lernen und handeln aus dem Fühlen und nicht wie wir Erwachsene aus dem Denken. Nur ein Kind, das den Brombeerbusch anfasst, lernt, dass er piekt, lernt, Situationen als gefährlich einzustufen. Zweijährige von heute können vortrefflich diskutieren, aber eine Treppe sicher hoch steigen oder auf beiden Beinen hüpfen, da wird es manchmal schon schwierig.
 
Wie können Eltern das Körpergefühl fördern?

Overdiek-Spilker: Natürliche Erfahrungsfelder eröffnen und gemeinsam erleben wie beispielsweise den Baumstamm in unserer Waldwoche, über den die Kleinen balancieren. Dabei weniger erklären als vielmehr zulassen und animieren nach dem Motto: "Du schaffst das, ich stehe hinter dir." Der Satz "Fall ja nicht runter" schürt hingegen Ängste. Kinder müssen lernen zu fallen und Gefahrenquellen zu erkennen, nur so kann Sicherheit entstehen.

Heißt das, Kinder brauchen kleine Unfälle  für ihre gesunde Entwicklung?

Kammler: Ja, so weh es uns Eltern auch manchmal tut. Bauchgefühl ist gefragt und die Begegnung auf Augenhöhe, um Kinder behütet ihre Erfahrungen machen und sie altersgemäß Verantwortung übernehmen zu lassen. Das macht Kinder stark und selbstbewusst. Ich muss dabei nicht alles erklären oder absichern. Ein Kleinkind, das nur Schutzpuffer an den Tischecken kennt, wird die Gefahr nicht einschätzen lernen.

 Ist Erziehung alles andere als ein Kinderspiel?

 Overdiek-Spilker (lacht): Maria Montessori hat einmal gesagt, Erziehung sollte nicht hauptsächlich Wissensvermittlung sein, sondern einen neuen Weg suchen, um menschliches Potential frei zu setzen.

Größte Gefahren
Ziel des von der Bundesarbeitsgemeinschaft (BAG) "Mehr Sicherheit für Kinder" organisierten Kindersicherheitstages ist es, das Bewusstsein für Unfallgefahren zu wecken. . Zu den "Top- 7-Gefahren" im Säuglings- und Kleinkinderalter zählen: Ersticken im Kinderbett, Sturz vom Wickeltisch, Ver­schlucken von Kleinteilen, Strangulation, Fensterstürze, Vergiftungs­risiko, Verbrühungen und Verbrennungen durch das Hochziehen an Tischdecken sowie Stürze mit der Lauflernhilfe.

Copyright © Lippische Landes-Zeitung 2025
Inhalte von lz.de sind urheberrechtlich geschützt.
Weiterverwendung nur mit Genehmigung der Chefredaktion.

Kommunalwahl-Abo

Angebot zur Kommunalwahl

5 Wochen Lippische Landes-Zeitung lesen -
gedruckt UND digital!

Jetzt bestellen
Kommunalwahl-Abo