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Flüchtlinge in Lippe

Mustafa Nahso hilft Lemgoer Neuankömmlingen im Alltag

Vom „Knochenjob“ zum Vorbild - 1997 floh der damals gerade 15-Jährige selbst aus Syrien

Lemgo. Per Landweg in die Türkei, mit Schleppern über die Ägäis nach Griechenland... und dann nach Norden: die Balkanroute. Was für viele noch vor Monaten nach einer entspannten Reise entlang der kroatischen Urlaubsziele klang – für Mustafa Nahso bedeutete die nunmehr als Flüchtlingsroute bekannte Strecke schon 1997 Hoffnung. Er floh aus Syrien nach Deutschland.

Heute sagt der 34-Jährige: „Ich will ein Vorbild sein für unsere Leute." Jedoch meint Nahso damit nicht die so beispielhaften Umstände seiner Flucht: Seine Familie spart Geld, viel Geld, um den damals gerade 15-Jährigen allein nach Nordeuropa zu schicken. Dort soll es ihm besser gehen. In Syrien erwarten den jungen Mann, der zur jesidischen Minderheit gehört, nur Schikanen. Der Lehrer wirft ihn von der Schule – es ist der Knackpunkt, der der Familie Nahso die Entscheidung abnimmt.

Nein, Vorbild ist Mustafa Nahso nicht mit seiner Flucht. Aber wie er in Deutschland Fuß fasst. So kommt der 15-Jährige zunächst in Dortmund in der Bonifatiuskirche unter, integriert sich, lernt Deutsch, findet als Volljähriger eine Arbeit: „einen Knochenjob", sagt Nahso zweideutig. Anstrengend ist die Arbeit im Zerlegebetrieb bei Münster einerseits – und Knochen sind, nun ja, allgegenwärtig.

Information
Persönlich

Der 34-jährige Mustafa Nahso floh 1997 im Alter von 15 Jahren als Angehöriger der jesidischen Minderheit aus Syrien. Über die Balkanroute nach Deutschland gekommen, kam der junge Mann zunächst in Dortmund bei der Bonifatiuskirche unter. In der Stadt lernte er an der Schule auch seine spätere Frau kennen, mit der Nahso inzwischen zwei Kinder hat. In Münster fand der er einen Job in einem Zerlegebetrieb – dem Arbeitgeber folgte Nahso nach Lemgo. Hier wurde er jetzt Flüchtlingshelfer in den Reihen des DRK.

Tagein, tagaus die gleiche schweißtreibende Arbeit. „Mit toten Tieren", betont der 34-Jährige heute nachdenklich und schlägt die Brücke zur Gegenwart. „Mit Menschen zu arbeiten, das macht doch viel mehr Spaß." Seit kurzem ist Mustafa Nahso Lemgos Flüchtlingshelfer. Im Auftrag des Deutschen Roten Kreuzes reist der junge Mann durch die Unterkünfte, um den Neuankömmlingen zu erklären, wie man in Deutschland zurechtkommt. Themen: Mülltrennung, Feuermelder, E-Herde, Einkaufen...

"Mit den Leuten auf Augenhöhe"

Dr. Reiner Austermann bestätigt: „In der lippischen Bürgermeisterrunde hat die Besetzung der Stelle mit Herrn Nahso für Aufsehen gesorgt." Der Bürgermeister spricht von einer Art Modellprojekt, das inzwischen von anderen Kommunen kopiert werde. Nahsos Schlüsselqualifikationen: Sprache und kulturelles Verständnis: „Ich spreche mit den Leuten auf Augenhöhe und verstehe ihre Gedanken."

So half er einer jungen Frau, die ihn panisch anrief, weil ihr Kind über unerträgliche Bauchschmerzen klagte. Er rief den Krankenwagen. „Sie selbst konnte es nicht", schildert der Lemgoer, was passieren kann, wenn einfachste Vokabeln fehlen. Der Junge hatte eine Packung Tabletten genommen, wollte sich das Leben nehmen – doch er wurde gerettet. Auch dank Nahso.

Der Lemgoer ist selbst Familienvater – seine Frau hat er in Dortmund kennengelernt, geheiratet, zwei Kinder mit ihr bekommen. So kann er verstehen, was die Flüchtlingskrise mit Familien anrichtet. Was Trennung bedeutet. Wie wichtig dann der Kontakt in die Heimat ist. Wie unverständlich hierzulande Alltägliches für Außenstehende ist. „Wenn ein Flüchtling am Bankautomaten dreimal den Pin-Code falsch eingibt, ist er fast immer vollkommen hilflos", sagt der Flüchtlingshelfer.

Geschäftsbereichsleiter Frank Laukamp ergänzt: „Unsere Sozialarbeiter müssten in solch einem Fall immer erst einen Dolmetscher zur Hilfe rufen." Nahso dagegen spricht Kurdisch und Arabisch und kommt im Lemgoer Flüchtlingsmix damit vergleichsweise weit. Wenn Busse mit Neuankömmlingen am Waisenhausplatz vorfahren, ist der 34-Jährige daher dabei: „Ich komme zur Begrüßung."

Auch beim ersten Gang zum Supermarkt ist der Helfer gefragt. „Zucker und Salz auseinanderzuhalten, wenn man nichts lesen kann, ist fast unmöglich", sagt er. Für die Stadt ist der junge Mann ebenfalls beinahe unbezahlbar. Dank seiner Überzeugungsarbeit gibt es beispielsweise in der Unterkunft im alten Jugendzentrum inzwischen zwei „Hausmeister" aus dem Kreis der Flüchtlinge, die die Mülltonnen rausstellen und aufpassen, dass niemand unter den Rauchmeldern qualmt.

Das deutsche System der Mülltrennung: für Flüchtlinge ein Buch mit sieben Siegeln. Doch wenn Mustafa Nahso erst einmal gemeinsam mit den Asylbewerbern eine Tonne Müll ausgekippt und neu sortiert hat, bleibt so etwas haften.

Nur eines, kann der 34-Jährige den Flüchtlingen nicht abnehmen: das Warten. Teilweise harren seine Landsleute acht Monate aus, bis ihr Asylverfahren überhaupt startet.

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