Löhne. Miriam kann mit den Fingerspitzen buchstabieren. Die 16-Jährige hat sich das in einem halben Jahr nach ihrer plötzlichen Erblindung beigebracht. Damit sie sich in ihrem neuen Leben zurechtfindet, braucht es jedoch deutlich mehr als ein paar Bögen Papier und das Abc. Blinde bekommen normalerweise eine intensive Grundausbildung.
Anonymisiert unter dem Namen Sophie hatte die Neue Westfälische über das Schicksal der 16-Jährigen berichtet und damit viele Leser berührt. Jetzt will die Löhnerin für mehr Unterstützung offen kämpfen. Und zwar nicht länger als Sophie, sondern mit ihrem richtigen Namen Miriam Riedl. Ihre Eltern Gabriele und Bernhard Riedl stärken ihr dabei den Rücken. Die drei streiten mit einer Bürokratie, die nach Aktenlage entscheidet, obwohl es große Unklarheiten gibt. Die Eltern sind nah am Verzweifeln. "Wir rennen gegen Gummiwände", sagt Bernhard Riedl.
Miriam übt die Blindenschrift mit ihrer Mutter und einer Assistentin. Katze Mira ist immer dabei. Unterstützung bekommt die Familie vor allem durch die gesetzliche Krankenkasse, die auch ein paar Stunden Mobilitätstraining bezahlt. Blinde haben aber einen gesetzlichen Anspruch auf Versorgung. Der Kreis Herford müsste Miriams Behinderung anerkennen und der Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL) Blindengeld in Höhe von monatlich 381,81 Euro bezahlen.
Behörden warten auf Befund
Doch diese beiden Behörden entscheiden erst einmal gar nichts. Schließlich gibt es bislang keinen ärztlichen Befund zu den Ursachen von Miriams Erblindung. Dabei bräuchte die Löhnerin, die im März 16 Jahre alt geworden ist, zügig Blindenunterricht, Betreuung und technische Unterstützung. Vor allem, um ihr Gefühl für die Welt der Sehenden, die maßgeblich durch Farben geprägt wird, nicht zu verlernen.Der Kreis Herford müsste am 11. Mai, nach sechs Monaten gesetzlich vorgesehener Frist, eigentlich Miriams Behinderung anerkennen. Ein Behindertenausweis würde ihr viele Türen öffnen. Doch der Kreis kettet sich an den LWL und verweist auf die Entscheidung des Landesblindenarztes, der zuvor "die Blindheit bestätigen" müsse. Und der LWL verweist auf Nachfrage auf die Expertisen unterschiedlicher Ärzte. Diese Unterlagen hat Familie Riedl selbst ihren Anträgen beigelegt in der Hoffnung, dass die Behörden die Erblindung anerkennen. Aus diesen Unterlagen geht zweierlei hervor: Erstens: Miriam kann nichts sehen. Und zweitens: Die Ärzte haben keine organische Ursache für ihre Erblindung finden können.
Verschiedene Tests und Untersuchungen haben ergeben, dass Miriam nach den Regeln der Ärztekunst sehen können müsste. Lichtblitze direkt vor Miriams Augen kommen nämlich messbar im Gehirn an. Auch deshalb schließen die Ärzte eine organische Ursache für die Erblindung aus. Allerdings spekulieren die Mediziner über seelische Ursachen.
"Psychosomatische Ursache"
Der LWL interpretiert diese ärztlichen Aussagen auf eigene Weise: Demnach gehen die behandelnden Ärzte "übereinstimmend und mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit von einer psychosomatischen Ursache" für die Erblindung aus. Der LWL argumentiert, auch wenn es keinen Befund gebe, müsse der Landesblindenarzt den Antrag der Familie ablehnen. Nach gültiger Rechtsprechung sei nur eine organische Ursache Grundlage für die Anerkennung als Blinde. Wenn die Seele dem Körper in die Quere kommt, gilt das bislang nicht als Anerkennungsgrund.Familie Riedl will das nicht akzeptieren und bekommt Unterstützung. Ein von Geburt an blinder Jurist, der sich bestens im Sozialrecht auskennt, hat sich nach unseren ersten Berichten bei der Familie gemeldet und erklärt, wie er selbst 21 Jahre ohne Diagnose gelebt habe. Auf erneute Anfrage beteuert der LWL: Noch sei nichts entschieden. Der Landesblindenarzt werde Miriam zu einer Untersuchung einbestellen. Ein Termin steht noch nicht fest. Unabhängig davon will die Familie am 4. Mai zu einer Uni-Klinik und mit den Diagnosen noch mal ganz von vorn anfangen. Gabriele Riedl: "Dann sehen wir weiter."