Lehren aus dem Fall von Kabul

Bielefeld/Berlin. Afghanistan im August 2021 – Schahina Gambir kommen diese Tage heute vor wie ein Thriller. Unablässig habe sie versucht, Informationen einzuholen, erzählt sie. &bdquo;Ich wollte irgendwie herauszufinden, was gerade passiert in diesem geschundenen Land." In jenen thrillerhaften Tagen eroberten die Taliban zuerst Kundus, dann Herat, am 15. August schließlich Kabul. &bdquo;Ich fühlte mich wie gelähmt", sagt Gambir, &bdquo;ich war völlig schockiert."

Schahina Gambir wurde 1991 in Kabul geboren. Als kleines Kind kam sie mit ihren Eltern nach Deutschland, ins Schaumburger Land. Abitur in Stadthagen, Berufsausbildung zur Veranstaltungskauffrau, fürs Studium ging sie nach Bielefeld. Sie war Sprecherin der lokalen Jugendorganisation der Grünen, dann des Kreisverbandes, inzwischen sitzt sie im Deutschen Bundestag.

Am 15. August 2021 war Gambir noch als Kandidatin in ihrem Wahlkreis Minden-Lübbecke unterwegs, als sie die Meldung vom Fall der afghanischen Hauptstadt las. &bdquo;Dass es den Taliban in kurzer Zeit fast mühelos gelungen ist, am Ende auch Kabul einzunehmen, konnte ich in dem Moment nicht glauben." Mit dem Abstand von zwölf Monaten geht es jetzt an die Aufarbeitung.

Der Bundestag hat eine Enquete-Kommission eingesetzt zu den &bdquo;Lehren aus Afghanistan". Enquete ist Französisch und heißt Untersuchung. Die Kommission gehört zu den klassischen Instrumenten der Legislative, um sich unabhängig und umfangreich über eine Lage zu erkundigen. Der Kommission gehören zwölf Mitglieder des Parlaments und zwölf Sachverständige an. Die Grünen haben Gambir zu ihrer Obfrau gemacht. Sie will die Sache offen angehen, sagt sie. &bdquo;Uns geht es um eine selbstkritische und wissenschaftlich gründlich angelegte Untersuchung."

Abschiebung in letzter Minute abgesagt Einige haben schon früh ihre Lehren gezogen – vor allem, nachdem die Bundesregierung am 26. August die Evakuierung in Kabul abgebrochen hatte und eilig gegründete zivile Initiativen einsprangen. Noch am 6. August 2021 wollte der damalige Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) Menschen nach Afghanistan abschieben. &bdquo;Der Flieger wurde dann doch, angeblich aus organisatorischen Gründen, abgesagt", sagt die Geschäftsführerin des Flüchtlingsrats NRW, Birgit Naujoks. Sie habe die Lage &bdquo;schon 2016 als fragil eingeschätzt".

Von dem Risiko, dass ein einfacher Identitätsverweigerer durch eine Abschiebung nach Afghanistan zumindest in große Lebensgefahr geraten konnte, hätte nach dieser Einschätzung schon Innenminister Thomas de Maizière (CDU) wissen müssen. Kabul fiel dann nur gut einen Monat vor der Bundestagswahl am 26. September 2021. Aus Sicht des Flüchtlingsrats und seiner Geschäftsführerin Naujoks gehört zur Wahrheit des deutschen Abzugs, dass &bdquo;eine Mehrheit im Bundestag kurz vor dieser Wahl kein größeres Interesse daran hatte, eine größere Anzahl von afghanischen Schutzberechtigten nach Deutschland zu holen." Zu diesen Schutzberechtigten zählen vor allem sogenannte Ortskräfte. Im Englischen spricht man von &bdquo;Local Allies", von Verbündeten.

Der Untersuchungsausschuss zum Abzug der Deutschen und zur Evakuierung der Ortskräfte aus Afghanistan hat sich kurz vor der parlamentarischen Sommerpause konstituiert. In dem Gremium sitzen ausschließlich Abgeordnete, sie verfügen über gerichtliche Befugnisse wie Zeugenbefragungen und eine Beweismittelaufnahme. Auch in diesem Kreis trägt ein Grünen-Politiker aus Ostwestfalen-Lippe maßgeblich Verantwortung: der Obmann Robin Wagener aus Bad Salzuflen.

&bdquo;Die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland wird auch am Hindukusch verteidigt", sagte im Dezember 2002 der damalige Verteidigungsminister Peter Struck (SPD). Eigentlich sei dieser Grundgedanke &bdquo;völlig richtig", sagt Wagener. &bdquo;In der heutigen Situation verteidigen wir unsere Sicherheit in der Ukraine, wir verteidigen sie auch an der finnischen Außengrenze."

Das Einsatzziel fehlte Einige Zeit nach Strucks Begründung für das Engagement der Bundeswehr entstand der Eindruck, sie bohre vor allem Brunnen und ermögliche Mädchen den Zugang zu Bildung. Einer der großen Fehler ist aus Wageners Sicht gewesen, dass man &bdquo;nach der Bekämpfung der Taliban und von Al-Qaida nicht festgelegt hat, was denn ein erfolgreiches Ziel dieses Einsatzes sein könnte".

Häufig hat man in den Tagen nach dem Fall von Kabul auch von einer &bdquo;deutschen Schande" gelesen. Wie sehen das jene, die den Abzug nun prüfen sollen? &bdquo;Die Tatsache, dass wir Menschen so zurückgelassen haben, empfinde ich als eine Schande", sagt Wagener, bis zur Bundestagswahl Richter am Sozialgericht. &bdquo;Es geht um Menschen, die uns geholfen haben. Menschen sind gestorben oder sind immer noch in Gefahr, weil wir zu spät gerettet haben."

Im Bundestag geht es vorrangig um einen Lerneffekt für andere Einsatzgebiete. Der Untersuchungsausschuss habe die Aufgabe, &bdquo;sehr genau aufzuklären, wer wann welches Lagebild hatte", sagt Wagener, &bdquo;warum zu spät evakuiert wurde und was bei der Rettungsmission hätte besser gemacht werden müssen".

Im Gegensatz zum Untersuchungsausschuss soll die Enquete-Kommission das gesamte deutsche außen-, sicherheits- und entwicklungspolitische Engagement in Afghanistan zwischen 2001 und 2021 aufarbeiten. Sie werde oft gefragt, sagt Gambir, ob sie als Abgeordnete vor allem deshalb mit Herzblut an diese Arbeit herangehe, weil sie in Afghanistan geboren wurde. &bdquo;Ich verspüre eine große Verantwortung gegenüber vielen Gruppen", sagt sie, &bdquo;den Soldatinnen und Soldaten gegenüber, den NGO-Mitarbeitenden, der Bundespolizei – und den Afghaninnen und Afghanen, die daran geglaubt haben, dass ihr Land rechtsstaatlich und demokratisch wird."

Die islamistischen Taliban, sagt Gambir, haben &bdquo;die Uhr für viele Menschen im Land zurückgedreht". Afghanistan sei heute &bdquo;in einem katastrophalen Zustand". Trotzdem habe sie Hoffnung in das Land und in die Menschen – &bdquo;und dass dieser 20-jährige Einsatz sie nachhaltig geprägt hat".

Ministerin Faeser sichert Hilfe zu Der Bundestag hatte nach den Anschlägen vom 11. September 2001 die ersten deutschen Soldatinnen und Soldaten nach Afghanistan geschickt, um unter NATO-Führung die Terroristen zu finden. Seit die islamistischen Taliban wieder in Afghanistan herrschen, sind Gewalt und Hunger an der Tagesordnung. Innenministerin Nancy Faeser (SPD) sicherte Hilfe zu: &bdquo;Wir lassen die afghanischen Ortskräfte nicht zurück." Bislang seien 15.759 Personen nach Deutschland geholt worden. Der Bund versprach 23.614 Menschen die Aufnahme.

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