"Das ist ein großer Erfolg für den deutschen Sozialstaat"

Herr Leisering, obwohl die Kindergrundsicherung finanziell viel geringer ausgestattet ist als ursprünglich gefordert, jubelte Familienministerin Lisa Paus in höchsten Tönen über die neue Sozialleistung. Was halten Sie von dem Ergebnis?

Lutz Leisering: Ich vermute, dass die Kindergrundsicherung ähnlich wie die Reform von Hartz IV zum Bürgergeld verlaufen wird. Erst wird ein großes Getöse gemacht und von einem Paradigmenwechsel gesprochen, aber das existierende System wird nur wenig verändert.

Über ein Online-Portal sollen Familien das Geld einfacher beantragen können als bisher. Geplant ist auch eine Informationspflicht zu den Ansprüchen – aus der Holschuld der Bürgerinnen und Bürger soll so eine Bringschuld des Staates werden. Wie wirkt sich das am Ende aus?

Das kann durchaus dazu führen, dass zustehende Leistungen mehr genutzt werden. Wie beim Bürgergeld wird sich für die meisten Leistungsbezieher trotzdem nicht viel ändern. Eine gewisse Ausnahme davon ist die vorgesehene Regelung, dass Unterhaltsansprüche, die alleinerziehende Mütter an die Väter haben, nicht mehr voll auf die Grundsicherung angerechnet werden sollen. Allerdings schafft das neue Ungleichheiten, weil alleinerziehende Mütter ohne Unterhalt dann schlechter gestellt werden.

Die Zahl der auf Bürgergeld angewiesenen Kinder und Familien, die schon länger in Deutschland leben, geht seit Jahren deutlich zurück. Die Gesamtzahl der Kinder, die von Bürgergeld leben, stagniert nach den Worten von Finanzminister Christian Lindner nur deshalb bei rund zwei Millionen, weil ständig neue geflüchtete Familien nach Deutschland und dann, zumindest für den Anfang, in den Bürgergeldbezug hineingekommen sind. Was fangen Sie mit dieser Erkenntnis an?

Diese ausländischen Kinder sind Kinder aus Asylherkunftsländern und Kinder aus der Ukraine. Mit Blick auf die Armut in Deutschland wird der Anteil von Ausländern und Menschen mit Migrationshintergrund häufig unterschlagen – so zuletzt, als die Diakonie auf der Bundespressekonferenz eine Expertise zu Kinderarmut vorstellte. Entscheidend ist, dass Armut bei Ausländern und zum Teil generell bei Menschen mit Migrationshintergrund tendenziell andere Ursachen hat als Armut von Deutschen.

Welche gehören an dieser Stelle genannt?

Menschen aus finanziell schwachen Familien, die seit Generationen in Deutschland verwurzelt sind, ringen etwa im Niedriglohnsektor um ihre Existenz. Zudem sollte man sich das große Ausmaß von Alleinerziehenden vor Augen führen. Bei Ausländern geht es um Fragen der Sprachkompetenz, der Qualifikation und der Integration in den Arbeitsmarkt und generell in die deutsche Gesellschaft. Wer den großen Anteil von Ausländern bei der Armut ausblendet, kann nicht zu wirksamen Maßnahmen der Armutsbekämpfung kommen.

Dass Menschen mit Migrationsgeschichte einen so hohen Anteil unter den Empfängerinnen und Empfängern von Grundsicherung haben, sehen Sie sogar positiv. Warum?

Mit Blick auf Deutsche zeigt der hohe Anteil der Menschen in der Grundsicherung ein Problem an – aber auch, dass diese Menschen wenigstens eine Mindestsicherung bekommen. Das gilt in besonderem Maße für geflüchtete Menschen: Die Grundsicherung bietet ihnen ein Ausmaß von sozialer Sicherung, das es nur in wenigen anderen Ländern gibt. Polen beispielsweise hat viele Menschen aus der Ukraine aufgenommen, aber bietet ihnen viel weniger Unterstützung. Es gibt in Polen einfach keine allgemeine Grundsicherung wie in Deutschland.

In sozialen Fragen wird in Deutschland trotzdem häufig über ein Staatsversagen geschimpft. Ihnen ist diese Sicht zu negativ?

Eindeutig zu negativ. Dass der Anteil der deutschen Minderjährigen im Bürgergeld seit 2015 um mehr als ein Drittel gefallen ist und inzwischen eben nur bei gut der Hälfte der Gesamtzahl der Bürgergeld empfangenen Kinder liegt, ist ein großer Erfolg für den deutschen Sozialstaat. Unter diesen als "deutsch" klassifizierten Kindern und Jugendlichen sind übrigens viele Minderjährige mit Migrationsgeschichte.

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