Horn-Bad Meinberg/Leopoldstal. Thomas und Margitta Müller sind enttäuscht und sauer. Das Paar versteht nicht, dass ihr Hausarzt nach acht Jahren die Behandlung ihres querschnittsgelähmten Pflegesohns Florian (26) eingestellt hat.
„Der Mediziner begründete dies damit, dass er bei Florian mit seinem Latein am Ende sei", sagt die 53-jährige Krankenschwester, die sich gemeinsam mit Ehemann Thomas zu Hause um insgesamt sieben Kinder kümmert, darunter vier mit Behinderungen. Sie könne das Verhalten des Hausarztes, der alle Arztberichte von sieben Kliniken erhalten habe, nicht verstehen, fügt sie hinzu. Der Arzt war für die LZ nicht erreichbar. Inzwischen hat die Familie einen Mediziner gefunden, der die Behandlung von Florian bis zum Ende des Quartals übernommen hat.
„Das ist nur eine Übergangslösung. Wir versuchen, ein normales Leben zu leben, doch uns werden immer Steine in den Weg gelegt", meint Thomas Müller. Man werde schief angeguckt, wenn man ein behindertes Kind habe, und ihnen werde sogar vorgeworfen, dass sie sich eine „goldene Nase" mit den Pflegekindern verdienten. Alle behinderten Kinder, die regelmäßig untersucht werden müssten, seien bei unterschiedlichen Ärzten in Lippe in Behandlung.
Auch Regina Behrendt, Gesundheitsexpertin bei der Verbraucherzentrale NRW, kann die Entscheidung des Mediziners nicht nachvollziehen. „Wenn man überlastet ist, nimmt man eigentlich keine neue Patienten auf und entlässt nicht langjährige Patienten", sagt Behrendt. Sie empfiehlt eine Beschwerde bei der Kassenärztlichen Vereinigung.
Die landet dann bei Dr. Hans-Christian Körner, Bezirksstellenleiter für die niedergelassenen Ärzte der Kassenärztlichen Vereinigung Westfalen-Lippe und Allgemeinmediziner in Horn-Bad Meinberg. „Ich habe erst vor einer Woche einmal die Behandlung von Florian übernommen, da die Mutter mit Tränen in den Augen in der Praxis stand", sagt der 45-jährige Mediziner. Das Verhalten seines Kollegen habe nichts mit Kalt- oder Hartherzigkeit zu tun, sondern vielmehr mit einer enormen Überlastung, von der viele Mediziner in Lippe betroffen seien. Im Kreisgebiet würden in den kommenden fünf Jahren 80 neue Hausärzte gebraucht, doch eine Lösung sei noch nicht in Sicht. „Viele Mediziner arbeiten bis zum Umfallen, daher kann ich die Patienten nur um Verständnis bitten", betont Dr. Körner. Wenn der Kollege die Behandlung von Florian eingestellt habe, dürfe er auch keine neuen Patienten aufnehmen.
Der 26-jährige Florian, der seit seinem ersten Lebensjahr bei der Familie lebt, hat insgesamt neun Geschwister, vier von ihnen sind ebenfalls gehandicapt. Eine Familie mit zehn Kindern, darunter vier behinderte Pflegekinder – für Vater Thomas Müller zählt diese Kategorisierung nicht: „Wir machen zwischen eigenen und angenommenen Kindern keinen Unterschied."
Als vor 28 Jahren der älteste, Nathanael, geboren wurde, „da war ich so dankbar, dass er gesund ist. Da wollten wir ein behindertes Adoptivkind aufnehmen", erinnert sich Margitta Müller. Sie wie auch ihr Mann sind Krankenpfleger von Beruf, mit Erfahrungen in der Kinderpsychiatrie. Erfahrungen, die ihnen – vor einem überzeugten christlichen Hintergrund – keine andere Wahl ließen als zu handeln. „Wir haben uns nicht entmutigen lassen", fügt die 53-Jährige hinzu. Sprüche wie „muss das denn noch sein" oder ähnliches, kritische Kommentare von Nachbarschaft und Jugendamt nahmen die Müllers zur Kenntnis, sie blieben aber ohne Nachhall.
Die Familie wohnt am Ortsausgang von Leopoldstal in einem Haus mit Tisch für zwölf Personen, mit einem Therapieraum einschließlich Bällchenbad, mit Spielzimmer und großer Küche. Hühner, Kaninchen, Schafe und zwei Ponys gehören dazu. Tiere zur Therapie – Hühnergegacker als akustische Anreize für den blinden Julian (19) oder als Streichelkontakte für Florian und die anderen, um Wahrnehmungsstörungen zu überwinden. Gleichzeitig lernen die Kinder, Verantwortung zu übernehmen. Der Alltag ist straff durchorganisiert. Spielzeit mit den Kindern ist von 16 bis 18 Uhr, eingekauft wird gleich kistenweise. „Obst und Gemüse sind nicht nur für uns, sondern auch für die Tiere", sagt Margitta Müller.
Die Familie lebt vom Verdienst der Eltern, von Pflegegeld und von Mitteln aus dem Opferentschädigungsgesetz. Dazu kommen Kindergeld sowie Geld- und Sachspenden. „Im Februar wollten wir zu unserem 30. Hochzeitstag in den Urlaub fliegen, doch wegen der lebensbedrohlichen Erkrankung von Florian konnten wir nicht los", sagt Mutter Margitta. Nächster Urlaubsanlauf sei im Dezember. „Dann können wir beruhigt fahren, da Florian nun einen Arzt hat", fügt sie hinzu.
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Kommentar: Kein Rezept gegen Ärztemangel
von Erol Kamisli
Auf den ersten Blick sorgt die Entscheidung des Mediziners, die Behandlung eines Behinderten einzustellen, für Kopfschütteln und Unverständnis. Bei genauerem Hinsehen wird deutlich, dass der Fehler im System liegt. In Lippe sind nach Auskunft der Kassenärztlichen Vereinigung die Praxen voll bis unter die Decke und Belastungsgrenzen der Ärzte schon längst überschritten – es fehlt der medizinische Nachwuchs, der seine Zukunft in Lippe sieht.
Der Megatrend der Landflucht hat ja nicht nur die Ärzte erfasst. Wenn Post, Bank, Schule und Gasthaus schließen, wird sich auch die Arztpraxis nicht halten lassen. Vielen jungen Frauen – die Mehrheit der Medizinstudierenden – und auch jungen Männern ist eine geregelte Arbeit wichtiger, die ihnen Zeit lässt für Familie, Freunde, Hobbys. Landarzt in Lippe ist da nicht die erste Wahl.
Doch für uns Patienten bedeutet der vertraute Arzt in der Nähe, der die Familie kennt und Krankheiten im Gesamtblick beurteilen kann, Sicherheit. Deshalb müssen alle Register gezogen werden, um den Landarzt-Beruf wieder attraktiver zu machen.
Einiges ist bereits geschehen – in Lippe suchen Ärzte, Kliniken und die Politik nach Lösungen. Es werden neue Studiengänge und die Abschaffung des Numerus Clausus fürs Medizinstudium gefordert sowie Kooperationen mit Hochschulen angestrebt – bisher mit mäßigem Erfolg
Der Ruf als unattraktiver Arbeitsplatz weicht nur langsam. Bis dahin wird es etliche Praxen in Lippe dahinraffen, werden Wege zum Hausarzt oder zu Spezialisten ebenso länger wie die Wartezeiten. Für viele ist das hinnehmbar. Aber für die wachsende Zahl derer, die auf dem Land alt werden und nicht mobil sind, fehlt noch ein schlüssiges Konzept, um ihre Versorgung auch künftig zu gewährleisten.
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