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Warum ein Elfjähriger seit Wochen die Schule schwänzen muss

Seine Oma kann ihn aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr fahren und die Behörden lehnen einen „Spezialverkehr“ ab

Erol Kamisli

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Gemeinsam Lernen: Martina und Bernhard Wipprecht üben mit Enkelsohn Tim, der zum eigenen Schutz nicht erkennbar ist. - © Torben Gocke
Gemeinsam Lernen: Martina und Bernhard Wipprecht üben mit Enkelsohn Tim, der zum eigenen Schutz nicht erkennbar ist. (© Torben Gocke)

Kreis Lippe. Er füttert die Vögel, spielt mit dem Hund und greift der Oma im Haushalt unter die Arme – doch eigentlich gehört Tim (Name geändert) in die Schule. Aber niemand kann ihn derzeit dorthin fahren. Der Junge lebt seit Juni bei seinen Großeltern in Blomberg-Höntrup und besucht im 17 Kilometer entfernten Barntrup die 5. Klasse des Gymnasiums. In der benachbarten Sekundarschule Blomberg war kein Platz für ihn. 

„Seit August habe ich ihn zweieinhalb Monate lang nach Barntrup gefahren – das waren täglich 70 Kilometer – doch jetzt kann ich nicht mehr", sagt Großmutter Martina Wipprecht, die ihr Enkelkind adoptiert hat. Ihr Augenleiden habe sich verschlimmert, das Auto sei defekt und die Schulbusverbindung von Höntrup nach Barntrup eine einzige Katastrophe.

„Tim muss drei Busse wechseln und die Umsteigezeiten betragen teils nur eine Minute. Und wenn er Nachmittagsunterricht hat, ist er erst am Abend gegen sechs Uhr zu Hause", sagt die 60-Jährige, die von Hartz IV lebt. Sie habe alle Stellen – Schulämter, Städte und Jugendämter – um Hilfe gebeten, doch passiert sei leider gar nichts, sagt die 60-Jährige und streichelt ihrem Enkelkind über den Kopf.

„Ich vermisse meine Mitschüler, aber ich kann ja nichts machen. Die Behörden interessieren sich nicht", antwortet der Elfjährige schulterzuckend. An den Unterricht am Barntruper Gymnasium hat er keine guten Erinnerungen, da er sich überfordert fühle. „Ich schreibe nur Fünfen und Sechsen", sagt Tim, der vor dem Umzug zu seinen Großeltern in einem benachbarten Kreis eine Grundschule samt Förderzweig besuchte.

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„Nachdem er zu uns kam, mussten wir eine weiterführende Schule finden", erinnert sich Martina Wipprecht. Doch trotz Haupt- und Realschul-Empfehlung sowie Lernschwäche habe das Schulamt Tim nicht auf die Sekundarschule in Blomberg, sondern ans Gymnasium geschickt. „Da ist er überfordert. Er muss auf eine Schule mit Förderzweig – da wäre Blomberg ideal", fügt die 60-Jährige hinzu. Mit einem Platz an der Sekundarschule wäre auch das Transportproblem gelöst. „Nach Blomberg fährt regelmäßig ein Bus", so Wipprecht.

Dies weiß auch Heinrich Kessen vom Schulamt für den Kreis Lippe. „Als der Junge nach Lippe gezogen ist, waren alle Plätze in Blomberg voll, daher musste er ans Gymnasium", sagt Kessen. Er kenne die Transport- und Lernprobleme, habe aber keine Wahl gehabt. „Der Junge steht auf der Warteliste. Vielleicht kann er zum Halbjahr wechseln", sagt Kessen.

Bis dahin sieht Kessen die Stadt Barntrup als Schulträger in der Pflicht, einen Spezialverkehr für Tim einzurichten. „Dafür haben wir kein Geld", sagt Kämmerer Uwe Schünemann. Man sei bereit, sich an den Spritkosten für die Oma des Jungen zu beteiligen. „Mehr geht nicht ", fügt er hinzu. Es sei Aufgabe des Kreises, eine passende Schule für Tim zu finden.

„Ein Wechsel zum Halbjahr wäre toll", sagt Martina Wipprecht. Ihr gehe es in erster Linie darum, dass ihr Enkelzur Schule geht. „Er soll einen ordentlichen Beruf lernen", sagt sie mit stockender Stimme und zeigt auf das Schreiben auf dem Tisch – eine Bußgeldandrohung über 1000 Euro, weil Tim die Schule schwänze.

„Es ist Schulschwänzen aus größter Not", sagt die Oma und setzt sich neben Tim. Er legt seine Arme um sie, küsst sie auf Wange und sagt: „Also mein großer Weihnachtswunsch ist, dass ich endlich wieder in die Schule kann."

Kommentar: Abwarten ist keine Option

von Erol Kamisli

Seit knapp acht Wochen geht der elfjährige Tim nicht mehr zur Schule, doch statt gemeinsam mit den Großeltern eine Lösung zu finden, schieben sich die Verantwortlichen in den beteiligten Behörden gegenseitig den Schwarzen Peter zu.

Niemand will oder kann Verantwortung übernehmen. Jeder versteckt sich hinter seinen Paragrafen, Vorschriften, Verantwortlichkeiten und zeigt aus sicherer Entfernung auf die anderen Kollegen. Das eigentliche Ziel – eine Lösung für Tim – scheint völlig aus den Augen verloren. Die Behörden und Institutionen erstarren im Nichtstun und ihr Motto lautet: Abwarten.

Die Frage ist worauf? Eine Lösung wird nicht vom Himmel fallen – obwohl dies einige in der Vorweihnachtszeit vielleicht hoffen. Das Opfer dieses Trauerspiels ist ein elfjähriger Junge, der gerne zur Schule geht, aber nicht kann. Er muss zu Hause bleiben, weil die Erwachsenen nicht in der Lage sind, eine Lösung zu finden. Das ist frustrierend und lässt zweifeln – schulterzuckend wiederholte er im Gespräch immer wieder diesen einen Satz:„Die Behörden interessieren sich ja nicht für mich, und ich kann ja sowieso nichts machen."

Doch bevor Frust und Zweifel beim Elfjährigen weiter wachsen und er irgendwann die Lust auf Schule und das Vertrauen in die Behörden völlig verliert, müssen alle Beteiligten schnell eine Lösung finden. So könnten der Kreis Lippe und die Stadt Barntrup vorangehen und ihren Streit im diesem Fall begraben und nach einem gemeinsamen Ziel Ausschau halten.

Warum soll für eine bestimmte Zeit nicht ein „Spezialverkehr" eingerichtet werden? Der fährt Tim vom Haus der Großeltern zur Schule und zurück – bis er einen Platz an der Blomberger Sekundarschule bekommt – und die Kosten werden auf mehrere Schultern verteilt. Dieses Geld ist eine gute Investition in unsere Zukunft. Denn es kommt uns als Gesellschaft viele teurer zu stehen, wenn Tim jetzt als lästiger Fall beiseite geschoben wird.

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