Bielefeld. Einzelne Schuhe, mitten auf dem Pflaster, am Gehwegrand, in der Gosse. Ein Damenschuh, ein Männerschuh, ein Sportschuh – neugierig nimmt die Kamera sie in den Fokus. „Was macht man mit nur einem Schuh?“, fragt eine Stimme raunend aus dem Off. „Hat denjenigen der liebe Gott zu sich genommen? Ein Todesfall? Ein Mord, eine Entführung? War Alkohol im Spiel?“ Ein einsamer Schuh kann neugierig machen, aber auch einen Schreck auslösen. „Das wissen wir Deutschen am Besten“, sagt die Stimme aus dem Off.
Dominik Graf, überwiegend aus dem Fernsehen und für seine Thriller bekannter Regisseur („Tatort“, „Der Fahnder“), weckt in der Eingangssequenz seiner Dokumentation „Jeder schreibt für sich allein“ mit ein paar harmlosen Schuhen Assoziationen an Schuhberge im KZ und öffnet so schnörkellos das Tor zur Vergangenheit. Sein Film, ab heute im Kino, nähert sich Schriftstellern und einer Schriftstellerin, die während der „dunkelbraunen Zeit“ (Graf) des Nazi-Regimes im Land geblieben sind.
Während die meisten prominenten Autoren ins Exil gingen, arrangierten sich Gottfried Benn, Erich Kästner, Hans Fallada, Ina Seidel und andere auf je eigene Weise mit den neuen Machthabern. Dominik Graf geht es in dem an Anatol Regniers gleichnamiges Sachbuch angelehnten Film nicht darum, aus der Rückschau zu verurteilen. Vielmehr zeichnet er aus der Sicht derer, die damals lebten, ein differenziertes, detailreiches Bild. Je länger sich die mit langem epischen Atem erzählende Dokumentation in die einzelnen Lebensläufe versenkt, kriecht beim Zusehen ein weiterer Schrecken herauf: darüber, dass sich die Gegenwart dieser vergangenen Wirklichkeit wieder anzunähern scheint.
Spurensuche als Familienforschung
Anatol Regnier, der Autor der Buchvorlage, ist Protagonist des Films. Die Biografie des 78-Jährigen ist prominent mit dem Filmsujet verwoben. Regnier ist Sohn des Schauspielerpaars Charles Regnier und Pamela Wedekind, seine Mutter war vor dieser Ehe mit dem Schriftsteller Klaus Mann verlobt. Regniers Großvater war der Dramatiker Frank Wedekind, dessen Witwe Tilly Wedekind später eine langjährige Beziehung zu Gottfried Benn hatte. Wenn Regnier sich vor der Kamera auf Spurensuche begibt, ist es auch Familienforschung in eigener Sache.
Seine Erkundungen an den jeweiligen Wohnorten der Porträtierten, elegant montiert mit historischem Filmmaterial, nachgestellten Szenen und Ausschnitten etwa aus Grafs Kästner-Verfilmung „Fabian oder Der Gang vor die Hunde“, liefern die Bilder zur wortreichen Tonspur. Insgesamt sechs Sprecherinnen und Sprecher zitieren umfangreich aus Büchern, Reden, Tagebüchern, Sitzungsprotokollen und Zeitungsartikeln.
Im Literaturarchiv in Marbach studiert Regnier den Brief-Nachlass Erich Kästners. Dabei erinnert er sich en passant, dass er immer ganz leise sein musste, wenn Kästner Regniers Mutter in München besuchte. Der hochgeschätzte Autor von Kinderbuchklassikern habe als „ausgemachter Kinderfeind“ gegolten.
„Mit Spießern und Mördern an einem Tisch“
Anders als von Kästner behauptet, blieb er nicht zwölf Jahre lang unveröffentlicht, sondern verfasste mit Sondergenehmigung von Propagandaminister Goebbels unter Pseudonym das Drehbuch für den NS-Unterhaltungsfilm „Münchhausen“. Kästner mogelte sich durch, sagt Regnier. Florian Illies, Autor, Verleger und Mitherausgeber der „Zeit“, ist einer von sechs Interviewpartnern, die im Film mit Split Screen opulent ins Bild gerückt werden und die Anpassungen der Autoren an die neuen Verhältnisse kommentieren. „Ich bin von Kästner enorm enttäuscht“, sagt Illies. Trotzdem müsse man vorsichtig mit Urteilen sein.
Ähnliche Gefühle löst das Verhalten des von vielen verehrten Lyrikers Gottfried Benn aus. Filmproduzent Günter Rohrbach versetzte es einen „Schlag in die Magengrube“, wie er sagt. Benn begrüßt 1933 das „Hervortreten eines neuen biologischen Typs“, bekennt sich öffentlich zum „neuen Staat“. Das verhindert nicht, dass auch er bald von den Nazis fallengelassen wird und erkennen muss, „mit Spießern und Mördern an einem Tisch gesessen“ zu haben, wie es der Historiker und frühere Berliner Museumsleiter Christoph Stölzl formuliert. Ziemlich ratlos fragt die Journalistin Gabriele von Arnim: „Wie kann das alles nebeneinander in einer Person wohnen?“
Klaus Mann, für den Benn ein literarischer Fixstern war, flüchtet nach der NS-Machtübernahme nach Frankreich. Regnier reist nach Sanary-sur-Mer an der Côte dAzur und besichtigt im Hotel de la Tour das berühmte Zimmer Nr. 17. Dort tippte Mann seinen Brief an Benn, in dem er ihn mit fassungslosem Unterton um Antworten bittet. Benn erwidert in einer Radioansprache kühl, dass er „über die deutschen Vorgänge“ nur mit denen spreche, die geblieben seien.
Mein Vater, der Nazi-Literat
Hanns Johst, der zum heute längst vergessenen Superstar des NS-Literaturbetriebs aufsteigt; Ina Seidel, die ihre Huldigung Hitlers nach 1945 bereut; Hans Fallada, der sich auf dem Land in Mecklenburg vergeblich aus allem Politischen herauszuhalten versucht; der mit einer Jüdin verheiratete Schriftsteller und Pfarrerssohn Jochen Klepper – sie komplettieren das aufgezeigte Spektrum sehr unterschiedlicher Autorenexistenzen im NS-Staat.
Nach 1945 prägt das Verhältnis der Eltern zum Nazi-Regime auch das Leben mancher Nachkommen. Ein Filmkapitel ist Bernward Vesper gewidmet. Der schildert in seinem erst postum 1977 veröffentlichten Romanfragment „Die Reise“ eindringlich die Konflikte mit seinem Vater, dem Nazi-Literaten Will Vesper. 1971 nimmt er sich mit 32 Jahren das Leben.
Grafs fast dreistündiger, anstrengender und zugleich lohnender Filmessay konfrontiert den Zuschauer mit vielschichtigen Fragen zum Verhältnis von Kunst und Leben. Schnelle, einfache Antworten gestattet er sich nicht. „Die Verkennung der Ambivalenz des Menschlichen und des eigenen dunklen Selbst führt zu einem neuen Totalitarismus, entstanden in der alternativlosen Glaubenshülle der guten Menschen“, doziert am Ende ein Chor der Sprecher. Die Botschaft des Films wäre auch ohne diesen lehrstückhaften Schluss zu verstehen gewesen.
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