Berlin. Um 20.08 Uhr am 6. November 2024 ist die erste Ampel-Koalition auf Bundesebene endgültig kaputt. Es gingen dramatische Wochen, Tage und zuletzt Minuten voraus. Unzählige Male hat es Krisengespräche über die Finanz- und Wirtschaftspolitik gegeben. Nun schlägt Finanzminister Christian Lindner in der Krisensitzung des Koalitionsausschusses im Kanzleramt vor, dass sie doch zu dritt Neuwahlen beschließen sollten.
Bundeskanzler Olaf Scholz unterbricht deswegen gegen 20.00 Uhr die Sitzung, damit alle Beteiligten darüber nachdenken können. Als wenig später die „Bild“-Zeitung die Meldung über den gerade erst von Lindner präsentierten Vorstoß bringt, zieht Scholz den Stecker. Sein Regierungssprecher Steffen Hebestreit funkt: „Kanzler entlässt Bundesfinanzminister Lindner“.
Um 21.18 Uhr tritt Scholz vor die Kameras. Er liest 15 Minuten eine ausgefeilte Erklärung vom Teleprompter ab. Seine Wut auf Lindner verbirgt er nicht mehr.
Scholz bekommt Applaus von SPD-Genossen
Dessen Neuwahl-Ansinnen sei allein ein schwerer Vertrauensbruch gewesen, sagt Rolf Mützenich zur Begründung nach einer Sondersitzung seiner SPD-Fraktion am späten Abend. Aber nach der „Indiskretion“, dies „sofort“ der Öffentlichkeit mitzuteilen, habe der Kanzler keine andere Wahl gehabt, als den Finanzminister aus der Bundesregierung zu entlassen.
Dafür bekommt Scholz von den zahlreich so kurzfristig um 22.30 Uhr erschienenen SPD-Parlamentariern minutenlang Applaus im Stehen. Vielleicht war es in den vergangenen drei Jahren der größte Beifall für den Kanzler in seiner Fraktion.
Es herrscht nach Teilnehmerangaben eine Mischung aus Erleichterung und Bestürzung – Erleichterung endlich den ungeliebten Koalitionspartner FDP los zu sein, und Bestürzung darüber, dass etlichen Abgeordneten ihr Abschied aus dem Bundestag dämmert. Einigen Abgeordneten stehen die Tränen in den Augen.

„Das war Erpressung“
An diesem späten historischen Abend präsentiert sich die Fraktionsebene als das, was man sich unter einem Politkarussell vorstellt: Kamerateams drängen sich um die Partei- und Fraktionschefs, die ihre Sicht des Bruchs schildern. Hinter den Türen kochen die Emotionen hoch. Galgenhumor macht sich breit. Der Regierungssprecher erklärt den Kanzler, der für den nächsten Tag den Abflug zu den Europäischen Gipfeln um Stunden verschoben hat – unter anderem weil der zum Bundespräsidenten ins Schloss Bellevue muss. Schließlich sollen die neuen Minister als Ersatz für die FDP auf der Regierungsbank schon am Donnerstag ernannt werden.
Applaus ist auch in der FDP-Fraktion zu hören. Auch sie ist wie die SPD und die Grünen zu einer Sondersitzung zusammengekommen. Auch Lindner wird beklatscht, sein Rausschmiss durch Scholz und dessen Begründung schließt die Reihen. Der Kanzler habe von Lindner verlangt, sich nicht mehr an die Schuldenbremse zu halten und damit das Grundgesetz zu brechen, empören sich Abgeordnete. „Das war Erpressung“, schimpft einer von ihnen. Lindner habe dies ablehnen müssen.
Scholz und Mützenich halten dagegen, dass das Instrument der außergewöhnlichen Notlage zur Abweichung von der Schuldenbremse bestehe und Russlands Angriff auf die Ukraine und die aus Deutschland an Kiew fließenden Milliarden Euro eine solche Notlage begründe. Es dürfe nicht sein, dass dieser Krieg in Deutschland dazu führe, innere und soziale Sicherheit sowie die Wirtschaft zu vernachlässigen. Das sei töricht.

Ist die Halle für den FDP-Sonderparteitag längst gebucht?
FDP-Fraktionschef Christian Dürr lobt hingegen Lindners Prinzipientreue als beispielhaft. 15 Milliarden Euro neue Schulden habe Scholz machen wollen, davon zwölf Milliarden für „konsumtive Ausgaben“ wie Subventionen für Elektroautos, die sich offenbar die SPD wünsche, und drei Milliarden Euro mehr für die Ukraine-Hilfe. Scholz hat Lindner beschimpft, nun stichelt die FDP zurück: Zur Lieferung von mehr und anderen Waffen für die Ukraine wie den Marschflugkörper Taurus sei der Kanzler nicht bereit gewesen, obwohl dies dem angegriffenen Land mehr helfen würde als Geld, erklärt Dürr.
Die FDP wirft Scholz vor, er habe den Bruch vorbereitet, sonst wäre seine Erklärung nicht so schnell in der Länge da gewesen. Die SPD hält Lindner vor, er habe diesen Rauswurf lange geplant. Es wird gemunkelt, die Halle für den nun anstehenden Sonderparteitag der Liberalen sei längst für den 1. Dezember gebucht.
Auch die anderen FDP-Minister würden sich aus der Regierung zurückziehen, kündigt Dürr noch an. Amtsende also auch für Justizminister Marco Buschmann und Bildungsministerin Bettina Stark-Watzinger – und Verkehrsminister Volker Wissing? Letzterer hatte sich erst vorige Woche für die Rettung der Ampel starkgemacht. Wegen der Verantwortung für das Land. Am nächsten Morgen erklärt er seinen Austritt aus der FDP und bleibt vorerst als Verkehrsminister im Amt. Ein Aufstand in der FDP gegen Lindner kündigt sich jedoch nicht an. Er gehe fest davon aus, dass Lindner auch der nächste Spitzenkandidat der FDP sein werde, sagt Dürr.
„Das ist kein guter Tag für Deutschland“
Und die Grünen? Kurz nach dem Kanzler treten Vizekanzler Robert Habeck und Außenministerin Annalena Baerbock vor die Kameras. Habeck sagt, er wisse, dass die Ampelkoalition nicht immer den besten Ruf gehabt habe. Dennoch fühle sich ihr Ende nun „falsch an“. Schließlich habe Deutschland eine Rolle zu spielen, nämlich international. Baerbock schließt da unmittelbar an. „Das ist kein guter Tag für Deutschland“.
Habeck – designierter grüner Kanzlerkandidat – hält sich dann aber mit der Vergangenheit nicht mehr lange auf, sondern widmet sich der Zukunft: „Im Frühjahr wird Deutschland eine neue Entscheidung zu fällen haben“, sagt er. Dabei werde es um Klimaschutz gehen, der ein Wettbewerbsvorteil sein könne, und um ein tolerantes Deutschland. „Wir haben gesehen, was in den USA passiert, wenn Hass und Hetze, wenn Populismus und Spaltung den Wahlkampf und die politische Debatte vergiften“, mahnt er.
Dann ziehen die beiden von der Regierungszentrale ins Reichstagsgebäude – mit ernster Miene gefolgt von den Parteivorsitzenden Ricarda Lang und Omid Nouripour sowie den Fraktionschefinnen Katharina Dröge und Britta Haßelmann. Am Rande ihrer Fraktionssitzung reden Grüne schließlich Klartext. Lindner sei immer schon ein „Egoshooter“ gewesen, sagt ein Abgeordneter aus Nordrhein-Westfalen, der den Finanzminister seit langem kennt. Die ehemalige Verbraucherschutzministerin Renate Künast erklärt, der FDP-Chef habe systematisch auf diese Zuspitzung hingearbeitet und sei nicht mehr am Wohl des Landes, sondern bloß noch an der Frage interessiert gewesen, wie er die FDP bei der nächsten Bundestagswahl wieder über fünf Prozent bringen könne. „Dann ist das dabei herausgekommen.“

Vertrauensfrage am 15. Januar – oder doch früher?
Die Wochen bis zum 15. Januar, der Tag an dem Kanzler Scholz im Bundestag die Vertrauensfrage stellen will, werden noch turbulent. Es ist völlig offen, für welche Entscheidungen die Minderheitsregierung aus SPD und Grünen die Zustimmung der Union bekommen kann. Vom Rentenpaket bis zur Sicherung der Industrie-Arbeitsplätze hat Scholz eine lange Liste erstellt. Manches ist dringlich. Im neuen Bundestag könnten AfD und BSW gemeinsam auf ein Drittel der Stimmen kommen. In der SPD-Fraktion mahnen sie, dass vor den Neuwahlen die Verfassungsänderung zur Absicherung des Bundesverfassungsgerichts durch sein sollte, für die zwei Drittel der Stimmen gebraucht werden.
Die Unionsfraktion kommt am Donnerstagmorgen zu einer Sondersitzung zusammen. Offenbar wird überlegt, Scholz Zeitplan gleich infrage zu stellen. Der Kanzler könne die Vertrauensfrage auch schon früher als am 15. Januar stellen, heißt es. Scholz hatte das Datum damit begründet, dass im Bundestag zunächst noch die wichtigsten anstehenden Beschlüsse gefasst werden sollten. Die Wahl könnte dann Ende März sein.
Mützenich hat noch eine Botschaft. Die SPD werde in den nächsten Wochen zeigen, „was hätte möglich sein können für dieses Land“. Wenn denn die FDP verantwortungsvoller gehandelt hätte. Zumindest dies soll nun anders werden: Zusammenhalt stärken, Mut machen. Die Wahl in den USA mit dem Sieg des Antidemokraten Donald Trump ist da nicht einmal 24 Stunden alt. Die deutsche Krise dieses Tages hat das fast in den Hintergrund gedrängt. Deutschland müsse jetzt Verantwortung tragen, sagt Mützenich. „Das wird nicht einfach und deswegen habe ich auch den Mitgliedern meiner Fraktion gesagt: ernsthaft überzeugend konstruktiv arbeiten und gleichzeitig tapfer sein.“ Er sagt „tapfer“. Weil das die Aufgabe in diesen Zeiten sei.