Was bleibt vom „Brexit", wenn alle wieder vom Baum sind? Diese Frage wird in den nächsten Wochen und Monaten die europäische Debatte beherrschen. Was das Verhältnis zwischen Großbritannien und der EU angeht, so wird sich vieles vom liebgewonnenen Alltag in bilateralen Verträgen regeln lassen: Reisemodalitäten, Aufenthalts- und Arbeitsgenehmigungen, patent- und wirtschaftsrechtliche Fragen, Transit- und Verkehrsabkommen oder ähnliches. Diese Regelungen werden so weitreichend und tiefgehend sein müssen, dass sich so mancher fragen wird, warum es eigentlich eines „Brexit" bedurfte.
Ausstieg mit symbolischer Wirkung
Und genau das ist die eigentliche Crux: die europäischen Staaten sind de facto so eng miteinander verwoben, dass ein Ausstieg aus der EU für die Bürger im positiven Sinne eher symbolischen Wert hat. Möglicherweise können die Briten ihre geliebten Glühbirnen weiternutzen, vielleicht geht die eine oder andere britische Eigenart, die durch EU-Gesetze auszusterben drohte, jetzt nicht verloren. Alles aber, was Großbritannien derzeit stark macht: die Wirtschafts- und Finanzwelt, der exportorientierte Handel, das starke britische Pfund wird durch den Austritt nicht stärker - sondern auf lange Sicht bestenfalls komplizierter.
Hier wiederum liegt das Aufgabenfeld der EU. Kommission und Parlament müssen endlich gemeinsam wieder den Geist der europäischen Gemeinsamkeit in den Vordergrund stellen. Denn derzeit stehen die Brüsseler Institutionen eher für bürokratische Kleinkariertheit und Lobbyismus, als für den politischen Rahmen der paneuropäischen Idee. Denn seit Jahren steht nicht „Wie gestalten wir Europa?" auf der Brüsseler Mottotafel, sondern eher „Wie retten wir die festgefahrenen Strukturen und wie holen wir darin das Optimum für uns selbst heraus?".
Mehrheit der Europäer sieht sich als Verlierer
Die griechische Finanz-Tragödie hat allerdings dem „Weiter so" der Strukturen eine fatale soziale Dimension verliehen: Die Mehrheit der Europäer fühlt sich heute angesichts dahinschmelzender Ersparnisse und Lebensversicherungen als Opfer und Verlierer der europäischen Gemeinschaft. Und dieser Umstand ist der Boden für viele politische Eruptionen bis tief in die gesellschaftliche Mitte hinein, die wir ja auch in Deutschland erleben.
Die Europäische Union kann aus all dem als gestärkte Gemeinschaft hervorgehen, wenn sie die Chance, die dieser Krise innewohnt, für die Menschen vernehmbar nutzt. Dazu gehören klare Reformen im paneuropäischen Sinne, die aber die nationalen Eigenarten stärker als bisher berücksichtigen. Dazu gehört auch, dass das europäische Parlament vollständig diejenigen Rechte erhält, die auch nationale Parlamente haben, und dazu gehört auch, dass es konsequenterweise unterschiedliche europäische Entwicklungskreise in der EU geben muss – je nachdem, wie stark die einzelnen Staaten sich als Teil eines vereinigten Europa begreifen.
Britische Jugend glaubt an ein vereintes Europa
Die britische Jugend hat gezeigt, dass die paneuropäische Idee selbst auf der Insel nicht tot ist. Sie ist derzeit aber den meisten Menschen keine haltbare Perspektive.
Der Sieg der Brexisten ist ein Sieg der Antipolitik gegen die Elite. Ein Triumph ihrer Lügen über seriöse Berechnungen und ein Votum gegen das Megathema des 21. Jahrhunderts: Migration. Das muss sich so ändern, dass der momentane Irrationalismus des gesellschaftlichen Diskurses keine Chance mehr hat.
Das muss sich so ändern, dass der momentane Irrationalismus des gesellschaftlichen Diskurses keine Chance mehr hat. Geht es in den kommenden zwei Jahren allerdings in den europäischen Gremien „nur" darum, den Brexit-Schaden ähnlich der Griechenland-Rettung so gering wie möglich zu halten, ist die paneuropäische Idee fürs erste endgültig politisch tot.
Möglicherweise ist sie das auch schon, weil die national-irrationalen Strömungen selbst in europäischen Kernländern wie Frankreich, Niederlande, Deutschland und Österreich mittlerweile so groß sind, dass die Europa-Politiker aus diesen Ländern dem nicht mehr genug entgegen zu setzen haben. Hier rächt sich ein weiterer Webfehler der Europa-Politik: die meisten Staaten haben nicht immer ihre Besten in die wichtigste europapolitische Schaltzentrale geschickt. Daher kann ein ernst zu nehmender pan-europäischer Impuls nur von der Kommission kommen. Doch die befindet sich zunehmend im Würgegriff derjenigen Staaten, die europäisches Geld zwar gern mitnehmen, Europa aber nicht weiterdenken wollen.