Lipper in Gewahrsam verletzt: Polizei will 20 Jahre nach Fenstersturz nicht mehr zahlen

Kreis Lippe. Jeder Blick in den Spiegel erinnert Ali A. an die eine Nacht in Polizeigewahrsam, die ihn bis heute verfolgt. Mehr als 20 Jahre ist es her, dass dem heute 60-Jährigen in einer Zelle unverschuldet ein Fenster auf den Kopf fiel und ihn schwer verletzte. Die Narbe und eine kleine Delle im Schädel sind noch heute sichtbar. A. sagt, es schmerze. Jedes Jahr lässt er daher seine Kopfhaut auf Kosten des Landes unterspritzen und behandeln. Jetzt will die Kreispolizeibehörde Lippe aber nicht mehr zahlen - obwohl es ein rechtskräftiges Urteil dazu gibt. Der Lipper fühlt sich erneut verraten. Die Sache ist aber kompliziert.

Wenn Ali A. über diese eine Novembernacht im Jahr 2003 spricht, wirkt es so, als wäre das Erlebte ganz frisch. Er erinnert sich an jedes Detail, kann den Schmerz genau beschreiben, sieht die Reaktionen der Beamten vor sich. &bdquo;Ich stand in einer Pfütze aus meinem eigenen Blut“, so beschreibt er den Moment, als das nachweislich falsch arretierte Kippfenster beim Schließen aus den Angeln gefallen und an seinem Kopf zerschmettert war. &bdquo;Kurz dachte ich, ich muss sterben.“

Trauma in Polizeigewahrsam Die Nacht, die er wegen Ruhestörung in Polizeigewahrsam verbrachte, scheint für A. ein Trauma zu sein. Das hat nicht nur mit dem 45 Kilo schweren Fenster zu tun, sondern auch mit dem Verhalten der Polizeibeamten. Keiner rief einen Rettungswagen, nur eine Psychiaterin sah sich die Wunde letztendlich an und spielte sie offenbar herunter.

Ali A. wird wütend, wenn er daran denkt. &bdquo;Mein Kopf war offen und die sagt, ich soll ein Pflaster drauf machen.“ Am nächsten Morgen habe er blutüberströmt in der Zelle gelegen. &bdquo;Das ganze Blut war getrocknet. Jeder Atemzug tat weh, als ob mir jemand einen Niederschlag verpasst hätte.” Dass die Polizisten damals ihre Amtspflichten verletzten, hält auch das zivilrechtliche Urteil aus dem Jahr 2012 fest.

Die Polizeidienststelle ließ den verletzten Mann am Morgen danach ohne Hilfe gehen. &bdquo;Es ist nachvollziehbar, dass der Kläger diese Behandlung als erniedrigend empfand und hierüber nach wie vor verbittert ist“, schreibt die Kammer in dem Urteil zehn Jahre später. Zudem hatte das Land NRW Ali A. zunächst selbst auf 4000 Euro Schadensersatz für das kaputte Fenster verklagen wollen, weil er randaliert habe. Dass den Mann keine Schuld traf, bewies ein technisches Gutachten.

20.000 Euro Schmerzensgeld nach Fenstersturz Von der Zivilkammer am Landgericht Detmold bekam Ali A. im Jahr 2012 insgesamt rund 20.000 Euro Schmerzensgeld und Schadensersatz zugesprochen. Außerdem sollte das Land NRW weiterhin für alle Schäden aufkommen, die mit dem Vorfall zusammenhängen, heißt es im Urteil. Seitdem lässt Ali A. sich in einer Naturheilpraxis seine Narbe behandeln, etwa 1000 Euro sind das im Jahr - samt Fahrtkosten. Eine Rechnung liegt der LZ vor.

Die Zahlstelle der Kreispolizeibehörde Lippe übernahm die Behandlung zehn Jahre lang, ohne etwas zu beanstanden - bis jetzt. Die neue Entscheidung begründet die Polizei nun damit, der Betroffene würde nicht nur die Narbe unterspritzen, sondern auch Kopf- und Nackenschmerzen behandeln - und dazu habe er kein Recht.

Das Gericht hatte laut Urteil bei der Verhandlung im Jahr 2012 festgestellt, dass ein bei dem Vorfall gebrochener Halswirbel nach sechs Wochen vollständig ausgeheilt gewesen war und damit keine Probleme mehr verursachen dürfte. Die ausstrahlenden Schmerzen seien degenerativ und könnten nicht mit dem Unfall zusammenhängen.

Ali A. sieht das anders. Er sagt, er klage seit dem Vorfall über Schmerzen und hätte nie wieder richtig arbeiten können. Dass ihm die Polizei jetzt nicht mal mehr die jährliche Behandlung bezahlen will, empfindet er als &bdquo;große Ungerechtigkeit“.

Ein ärztliches Gutachten als Nachweis zu erbringen – wie das Land es nun fordert – könne sich der Lipper nicht leisten, sagt er. Ihm fehle die Kraft für ein langes Verfahren. Außerdem sei schon mal ein falscher Wirbel untersucht worden, behauptet er. Nachweisen lässt sich das nicht. Sein Anwalt Hendrik Schnelle erklärt, eine erneute Klage wäre der einzige Weg. &bdquo;Aber natürlich ist das immer risikobelastet. Er müsste in Vorleistung gehen“, sagt Schnelle.

Polizei will Nachweise Die Polizei erklärt auf Anfrage, sie sei verpflichtet, gegen das Land geltend gemachte Ansprüche sorgfältig zu prüfen und nur zu zahlen, wenn ein Zusammenhang zwischen &bdquo; dem ursprünglichen Ereignis und den geltend gemachten Kosten hinreichend nachgewiesen ist“. Sie könne daher nur weiter zahlen, wenn der Betroffene beweist, inwiefern die Beschwerden immer noch mit dem Vorfall 2003 zusammenhängen.

Die Forderung fühlt sich für Ali A. wie eine erneute Erniedrigung an. Schließlich ziehe er aus dem Unterspritzen und Quaddeln keine besonderen Vorteile, sagt er. Der Vorfall habe sein ganzes Leben verändert. &bdquo;Ich habe jeden Tag Schmerzen - mal mehr, mal weniger.“

Nach wie vor lässt ihn die Nacht nicht los. Gegen einen der damals anwesenden Polizisten wurde anschließend wegen Freiheitsberaubung ermittelt. Das Verfahren ist laut Polizei eingestellt worden. Weshalb lässt sich nicht mehr nachhalten. Die Akte existiert nach den gängigen Löschfristen nicht mehr, teilt die Staatsanwaltschaft mit. Manches wird Ali A. nie aufarbeiten können.

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