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Kindesmisshandlungen: NRW will Ärztehopping der Täter verhindern

Kristin Kruthaup

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Illustration: Ein junges Mädchen hält sich die Hände vor ihr Gesicht. Dass Eltern ihre Kinder nicht schlagen dürfen, steht heute in Deutschland im Gesetz. - © dpa
Illustration: Ein junges Mädchen hält sich die Hände vor ihr Gesicht. Dass Eltern ihre Kinder nicht schlagen dürfen, steht heute in Deutschland im Gesetz. (© dpa)

Münster/Düsseldorf. Verbrennungen oder ein Knochenbruch: Haben Kinder solche Verletzungen, ist Kinderarzt Burkhard Frase aus Münster besonders aufmerksam. Grund für den Befund kann ein Unfall gewesen sein, wie die Eltern es häufig erzählen. Es kann aber auch einer von den drei Fällen pro Jahr in seiner Praxis sein, in denen Kinder misshandelt werden. „Oft lässt sich anhand der Verletzung keine eindeutige Ursache feststellen", sagt Frase.

Erst im Wiederholungsfall verhärtet sich häufig der Verdacht von Kindesmisshandlung. Ein zweites Mal bekommt Frase misshandelte Kinder aber mitunter nicht zu Gesicht. Die Täter wechseln den Arzt. So bleiben sie unentdeckt. Ärztehopping nennt sich das Phänomen. Die Regierung in NRW will dem einen Riegel vorschieben.

Im Koalitionsvertrag der schwarz-gelben Koalition heißt es: „Zur Verbesserung des Kinderschutzes werden wir den interkollegialen Ärzteaustausch zur Verhinderung von Ärztehopping und Gewalt gegen Kinder ermöglichen und den Ärzten Rechtssicherheit geben."

Laut Koalitionsvertrag soll Ärzten künftig untereinander beim Verdacht von Kindesmisshandlung der Austausch ermöglicht werden. Bald sollen sie in dieser Situation Rechtssicherheit haben, und nicht wie bisher in einem rechtlichen Graubereich agieren. Es wäre die Klärung einer seit Jahren juristisch umstrittenen Situation, sagt Jurist Stefan Huster von der Ruhr-Universität Bochum.

2015 wurden nach Angaben des Statistischen Landesamts IT NRW 649 Mädchen und Jungen unter 14 Jahren in Nordrhein-Westfalen misshandelt oder missbraucht. „Wir gehen davon aus, dass nicht alle Fälle von Kindesmisshandlung bis zur Anzeige kommen, sondern dass es eine Dunkelziffer gibt", ergänzt Margareta Müller vom Kompetenzzentrum Kinderschutz beim Kinderschutzbund NRW. Jeder Fall, da sind sich alle Experten einig, ist einer zu viel. Doch es ist nicht so einfach, Ärztehopping zu verhindern.

Kinderärzte wie Frase unterliegen der Schweigepflicht. Was Patienten ihnen anvertrauen, dürfen sie nicht an Dritte weitertragen – auch nicht an andere Ärzte. Wollen sie das machen, benötigen sie das Einverständnis des Patienten.

Das sind im Fall der misshandelten Kinder die Eltern, die gleichzeitig Täter sind und es daher verweigern.
Verstoßen Ärzte gegen die Schweigepflicht und fragen etwa bei einem Kollegen, ob dort ein Kind schon einmal auffällig geworden ist, machen sie sich strafbar und brechen Berufsrecht.

Information
Gewalt gegen Kinder

Jeden Tag werden in Deutschland mindestens zwölf Kinder misshandelt, drei Kinder sterben in der Woche. Das geht aus der Polizeilichen Kriminalstatistik 2016 hervor. Im Vergleich zum Vorjahr sind die Fälle von Gewalt gegen Kinder erneut gestiegen. Bei der Zahl der Todesopfer gibt es einen Anstieg von 130 Delikten im Jahr 2015 auf 133 in 2016. Rund ein Viertel dieser Tötungen findet im Zusammenhang mit Trennungen statt.

Der Arzt darf die Schweigepflicht nur in Ausnahmefällen brechen. Das gilt etwa im Fall, wenn sonst eine Gefahr für Leib und Leben des Kindes besteht. Doch handfeste Beweise hat Frase am Anfang oft nicht. Er hat zu Beginn nur den Verdacht, dass das Kind nicht – wie von den Eltern behauptet – etwa vom Bobbycar gefallen ist, sondern geschlagen wurde. Verdachtsmomente reichen aber nicht.

Um bei Ärztehopping trotzdem aktiv werden zu können, haben der Kinderarzt Ralf Kownatzki und Kollegen 2005 in Duisburg die Risiko-Kinder-Informationsdatei (Riskid) gegründet. Es ist eine Art Datenbank für Ärzte im Netz. Wer einen Misshandlungsverdacht hat, kann den Namen des Kindes eingeben und schauen, ob es bereits Befunde zuvor behandelnder Ärzte gibt. Das Portal ist nur für registrierte Ärzte offen.

Bislang machen rund 270 Ärzte bundesweit mit. „Das ist weit entfernt von dem, was wir als Ziel haben", erklärt Kownatzki. Viele Ärzte seien bislang zurückhaltend. „Viele haben Angst vor Strafverfahren, wenn sie Verdachtsfälle einstellen", sagt Kownatzki. Nach Ansicht von Huster ist ein Einstellen der Daten der Kinder ohne Einverständnis der Eltern verboten.

Seit der Gründung der Datenbank gab es zahlreiche Versuche, die gesetzliche Lage zu klären: Juristisch ist die Situation sehr umstritten. „Die Frage ist, ob das Land überhaupt eine Regelung treffen kann oder, ob das die Aufgabe der Bundesregierung ist. Zudem stellt sich die Frage, wie diese Regelung ausgestaltet werden soll. Es gibt da verfassungsrechtliche Grenzen", sagt Huster.

Als 2012 das neue Bundeskinderschutzgesetz in Kraft trat, hat man auf eine Regelung zum Ärzteaustausch zur Verhinderung von Ärztehopping verzichtet. In NRW gab es dann zwischen 2013 und 2015 mehrere Anhörungen im Landesparlament. Doch eine klare gesetzliche Regelung blieb aus. Nun will die neue Regierung einen erneuten Anlauf unternehmen.

Frase arbeitet seit 25 Jahren als Arzt und hat seitdem viel gesehen. „Es gibt so viele unterschiedliche Misshandlungen, wie es Kinder gibt", sagt er. Gemeinsam sei ihnen häufig eins: Sie haben einen chronischen Verlauf. Wenn ein Kind einmal geschlagen wurde, passiert das häufig ein zweites Mal – und in vielen Fällen nimmt die Stärke der Misshandlungen zu. Der innerärztliche Austausch würde ihm helfen. „Ich hoffe, dass es eine gute, juristisch einwandfreie Regelung gibt", sagt Frase.

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