Bielefeld. Bertolt Meyer bringt eines der Kernprobleme der digitalen Arbeitswelt auf einen schlichten Nenner: „Ich habe nur noch selten das Gefühl, ich bin jetzt mit der Arbeit fertig", sagt der Psychologe von der TU Chemnitz. Ausgestattet mit Smartphone und Laptop seien immer mehr Arbeitnehmer technisch jederzeit und überall einsatzfähig. Von der ständigen Erreichbarkeit gestresst würden zu allem Übel vor allem jene, denen ihre Arbeit wichtig ist, „die brennen".
Ob die potenzielle Mehrbelastung tatsächlich als Überlastung empfunden werde, sei freilich vom Einzelnen abhängig, sagt Meyer: „Denn Belastung entsteht im Kopf." Nur wenn Belastungen und persönliche Ressourcen in Balance stünden, sei psychische Gesundheit zu erwarten.
Der Wirtschaftspsychologe war Gast der Tagung „Gesundheit in der Arbeitswelt 4.0", veranstaltet vom Zentrum für wissenschaftliche Weiterbildung der Uni Bielefeld. Meyer brachte alarmierende Zahlen mit: So hätten psychische „Fehlbeanspruchungen" am Arbeitsplatz so zugenommen, dass die Zahl der Krankheitstage aus psychischen Gründen von 2004 bis 2014 um 120 Prozent gestiegen sei. „2012 waren Kosten von 33 Milliarden Euro die Folge", verdeutlichte Meyer die Dimension des Problems.
In Mitarbeiter-Befragungen komme erhöhter Termindruck, schlechtes Arbeitsklima und emotionaler Stress zutage. Beklagt werde, dass die Digitalisierung die Arbeitnehmer zu stetiger Weiterentwicklung ihrer Fähigkeiten zwinge und dass sie mehr Aufgaben gleichzeitig bewältigen müssten. Dabei sei die Digitalisierung der Arbeitswelt ein zweischneidiges Schwert, aber keinesfalls nur negativ. Viele Aufgaben würden durch die moderne Technik körperlich leichter, und zugleich werde die Arbeitsleistung erhöht – die Produktivität steigt.

Arbeitgebern rät Meyer zur Erfassung der psychischen Situation ihrer Mitarbeiter durch einfache Befragungen. Weiterbildungen könnten ein Mittel zur mentalen Ertüchtigung sein. Ungeeignet aber seien Reaktionen, wie sie ihm jüngst in einem Werk der Autobranche zu Ohren kamen: Dort waren die Fehlzeiten um 50 Prozent gestiegen. „Und was machen Sie dagegen?", fragte Meyer. „Wir suchen widerstandsfähigere Mitarbeiter ...", lautete die Antwort. Dabei sei gesundheitsorientierte Führung das Gebot der Stunde.
Die Gesundheitsmanager lernen derzeit, dass die Digitalisierung Ängste schürt. Die Angst vor Fehlern führe zum Schweigen und am Ende zur Sorge um den Arbeitsplatz. Bernhard Badura, Soziologe und Mitbegründer der Bielefelder Fakultät für Gesundheitswissenschaften, ermahnte die Gesundheits-Fachrichtungen – Ergonomen, Arbeitspsychologen, Arbeitsmediziner und Gesundheitswissenschaftler – zu Kooperation statt akademischer Eifersucht.
Die Digitalisierung der Arbeitswelt, so Badura, verstärke den Trend zur „Kopfarbeit". Wenn Maschinen zu lernenden Systemen aufgerüstet werden, sei eine neue Arbeitsteilung die Folge. Befürchtungen, dass in der Wirtschaft künftig weniger Arbeitskräfte benötigt werden, seien nicht ganz von der Hand zu weisen – soziale Folgen wie eine Verarmung der Mittelschicht und wachsende soziale Ungleichheit seien daher denkbar.
Badura betonte, dass die gesellschaftlichen Folgen der Digitalisierung noch ungewiss sind. Klar sei aber, dass mit der Digitalisierung eine grundlegende Veränderung der Wirtschaft und eine Erhöhung psychischer Belastungen einhergehe. „Psychische Energie wird knapper", mahnt Badura: „Wir brauchen mehr Aufmerksamkeit für psychische Gesundheit."
Kommentar: "An der Belastungsgrenze - Digitalisierung und die Folgen"
von Martin Krause
Die genauen Folgen der Digitalisierung sind noch im Ungewissen. Die Wirtschaft erwartet durch den Einsatz „intelligenter" und vernetzter Maschinen enorme Produktivitätssteigerungen. Alles bestens also?
Nein, die Medaille ist nicht ohne Kehrseite.
Es gibt neue Ängste vor Massenentlassungen und dem Ausschluss weiter Bevölkerungsteile vom Wohlstand. Die Digitalisierung verschärfe den Trend zur Ungleichheit, weil sie höher Qualifizierte und Kapitaleigner bevorzuge, befürchtet der Soziologe Bernhard Badura.
Dass die Deutschen im globalen Digitalisierungswettrennen nicht die Pole Position haben, zeigt eine Statistik der EU. Danach liegt die Zahl der hierzulande erwartbaren „beschwerdefreien Jahre" im Schnitt bei 56 Jahren – weit weniger als in Schweden (73) oder Spanien (65).
Unsere Gesellschaft lebt wohl schon am Rande ihrer Belastungsgrenze. Vielleicht liegt hier der Schlüssel für das Verständnis vieler Reibereien und Kämpfe – und der Ausgangspunkt für eine Rückbesinnung auf das, was wirklich zählt.