Detmold. Die „Dorfgeschichten“ des Literaturbüros und des Freilichtmuseums erfreuen sich einer außerordentlich großen Beliebtheit. So musste Corinna Harfouch das Podium in der großen Deele des ehemaligen Kuhlmann-Hofes betreten. Sie las aus David Grossmans Roman „Eine Frau flieht vor einer Nachricht“.
Noch bevor die beliebte Schauspielerin und tief beeindruckende Vorleserin das erste Wort aus den von Literaturbüro-Leiterin Dr. Brigitte Labs-Ehlert ausgewählten Abschnitten aus diesem literarischen „Backstein“ las – der Roman hat mehr als 700 Seiten –, empfahl sie jedem der Anwesenden im übervollen Saal, dieses Buch zu lesen. „Es wird sie verändern.“
Dass das keine leeren Worte waren, war den Zuhörern schon in der Pause anzumerken. Corinna Harfouch hatte sie erreicht. Ihre tiefe Anteilnahme hatte sich übertragen – vor allem, weil es ihr gelang, der Mutter in der Geschichte jenes Gesicht zu geben, das wohl jede Mutter erfasst, wenn sie ihren Sohn in den Fängen des Krieges weiß.
Ora flieht vor der Nachricht, ihr Sohn Ofer könne gefallen sein, wie es in einem der brillantesten Euphemismen der Menschheitsgeschichte immer wieder heißt. Harfouch spricht leise, wenn sie die Mutter spricht. Ihre Stimme wird hell, als riefe sie nach dem kleinen Mädchen in ihr, das noch „glücklich“ ist, weil es noch nicht weiß, dass es diese Welt nicht verstehen wird. Aber in dieser Stimme ist ein Zittern, dass gefangen ist zwischen der Liebe zu ihrem Sohn Ofer und dessen Vater Avram und ihrer Ferne zu ihnen. Nein, sie ist nicht mit Avram verheiratet, sondern mit seinem Bruder Ilan, aber sie hat Avram auch geliebt. Beide sind Männer, wie sie wohl in dieser Welt sein sollen. Der Sohn will zu den Kameraden. Avram fühlt nichts mehr, seit er aus dem Krieg schwer verwundet wiederkam. Keine Liebe für niemanden ist mehr in ihm. Der Sohn soll von dieser Leere nichts lernen. Die Mutter liebt beide, aber sie versteht nichts. Sie flieht, obwohl sie von Anfang an weiß, dass sie dieser Welt nicht entkommen kann.
Der Roman spielt in Israel. David Grossman tritt als Jude vehement gegen die Regierung Israels für eine Versöhnung zwischen Israeli und Arabern ein. Das war auch der Grund, Grossman im Angesicht eines Hauses im Museum, aus dem eine jüdische Familie verschleppt wurde, hörbar zu machen. Seine Parabel ist übertragbar. Sie gipfelt in dem Appell den schon Wolfgang Borchert in seinem Gedicht „Sagt nein“ ausruft: „Mütter in der Welt, wenn sie morgen befehlen, ihr sollt Kinder gebären (...) und neue Soldaten für neue Schlachten (...) Sagt nein.“ Schon auf ihn, wie auf so viele vor ihm und nach ihm, wurde nicht gehört. Es scheint, die Dichter sind ohnmächtig. Aber ohne ihre Ohnmacht wäre die Welt wohl nicht zu ertragen.