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Bad Salzuflen

Verschickung: Kinderkurheim Asental nur eines von vielen Heimen in Bad Salzuflen

Bad Salzuflen. „Holt mich heim", wollte Andrea Nick eigentlich auf die Karte schreiben, die sie 1971 nach Hause schickt. „Mir geht es noch sehr gut", ist am Ende unter anderem zu lesen. Ein anderes Kind habe ihr beim Schreiben geholfen, sie selbst dann eine krakelige Unterschrift darunter gesetzt.

Was sie eigentlich sagen wollte, durfte sie nicht, erzählt sie heute. Sechs Jahre alt ist Andrea Nick damals. Für sechs Wochen wird sie von Leverkusen aus zur Kur ins private Salzufler Kinderheim Astental an der Stauteichstraße geschickt.

Heute ist Andrea Nick 57 Jahre alt, verheiratet, hat zwei erwachsene Kinder. Sie lebt in Radevormwald und arbeitet als Erzieherin. Als das Thema Verschickungskinder in den Medien aufkommt, ist sie überrascht. „Ich hatte die Erfahrung immer präsent und das Erlebte immer als negativ empfunden. Aber plötzlich wusste ich, dass ich nicht alleine bin", erzählt sie.

Die Postkarte hat Andrea Nick von ihrem Aufenthalt im Kinderheim Asental nach Hause geschickt. - © Andrea Nick
Die Postkarte hat Andrea Nick von ihrem Aufenthalt im Kinderheim Asental nach Hause geschickt. (© Andrea Nick)

An einige Dinge kann sie sich konkret erinnern. Mit ihren Eltern habe sie über die Zeit nie sprechen können. Das Verhältnis zu ihrer Mutter – stets schwierig. „Vielleicht kam das daher. Mir fehlte das Vertrauen", sagt sie. Schon direkt zu Beginn der Kur sei sie getäuscht worden. „Es hieß, ein Nachbarskind würde mitfahren, ich wäre nicht allein", erinnert sich Andrea Nick. Am Ende ist sie es doch, sie kennt niemanden. „Das war schon der erste Schock", erinnert sie sich.

"Eine Qual, weil man nicht zur Toilette durfte"

Im Heim musste immer ein Mittagsschlaf gehalten werden, erzählt sie, manchmal draußen auf dem Hof. Währenddessen durften die Kinder nicht auf die Toilette. „Es war eine Qual, weil man sich nicht traute, zu sagen, dass man musste", sagt sie. Sie erinnert sich daran, dass man in Zweiergruppen spazieren gegangen sei, an einen Gruppenraum, an einen großen Waschraum, an das Arztzimmer. Morgens habe es immer Haferschleim gegeben. Erst wenn der aufgegessen war, gab es ein Marmeladenbrot.

Süßigkeiten, die die Eltern per Post schickten, wurden unter der ganzen Gruppe aufgeteilt. Kam ein Brief, wurden die Kinder einzeln nach vorn gerufen und der Inhalt allen vorgelesen. Riesenheimweh habe sie gehabt, sagt Andrea Nick, aber sich nicht getraut zu weinen. Der Druck und die Angst seien groß gewesen, es habe Sanktionen gegeben. Ihr Bruder hat ihr erzählt, wie verstört sie gewesen sei, als sie nach Hause kam. „Ich soll eine Riesenangst gehabt haben, wieder weg zu müssen", erzählt sie.

Heute spricht sie oft mit ihrem Mann und den Kindern über das Erlebte. „Ich kann nicht verstehen, wie man ein kleines Kind allein wegschicken kann", sagt Nick heute. Die Angst, verlassen zu werden, sie ist immer noch da.

Kaum Informationen über das Kinderheim Astental

Über das Kinderheim an sich liegen heute kaum Informationen vor, heißt es aus dem Salzufler Stadtarchiv. Immerhin: Einem alten Flyer sind ein paar wesentliche Daten zu entnehmen. So sollen die Leitung zwei Frauen, beides staatlich geprüfte, sozial-pädagogische Fachkräfte, gehabt haben. 25 Kinder im Alter von fünf bis zwölf Jahren konnten im Heim betreut werden.

Die Betreuung der Jungen und Mädchen erfolgte durch eine Kinderärztin und weitere Fachkräfte, aufgenommen wurden Kinder mit Krankheitsbildern wie Bronchitis, schwacher körperlicher Konstitution, nervösen Erschöpfungszuständen oder Appetitlosigkeit.

Das Haus, das sich im Flyer als „moderner Landsitz mit allem Komfort" bezeichnet, wirbt vor allem mit seiner guten Lage abseits vom Kurbetrieb, „ruhig, sonnig und staubfrei" soll es hier gewesen sein. Zum Gelände gehörten 5000 Quadratmeter Park und Garten direkt am Wald. Die Kinder durften im Freien baden, rudern, Golf spielen, rodeln oder Skifahren, heißt es.

Stadt finanziert Berliner Kindern den Kuraufenthalt

Zu einer Besonderheit kam es zwischen den Jahren 1956 bis vermutlich 1966 – Akten der Salzufler Verwaltung, die ebenfalls im Stadtarchiv einzusehen sind, belegen zumindest für diesen Zeitraum die Aufnahme von Berliner Kindern, die unter anderem im Haus Asental Erholung finden sollten.

Konkret ging es dabei um die „Aktion Ferienkinder" der Stiftung „Hilfswerk Berlin", die es sich zur Aufgabe gemacht hatte, schulpflichtige Kinder während der Ferien in Familien und Kinderheime zu verschicken. Man habe den Kindern, die besonders unter der damaligen politischen Situation während der Zeit des Mauerbaus litten, helfen wollen. „Durch diese soziale Tat stärkt Ihr das Zusammengehörigkeitsgefühl zwischen Westdeutschland und der Bevölkerung der Insel Berlin", heißt es in einem Aufruf des Hilfswerks von 1959. Finanziert wurde das Ganze durch Spenden.

In Bad Salzuflen wurde 1956 beschlossen, sich zu beteiligen und Berliner Kindern auf städtische Kosten einen vierwöchigen Aufenthalt in einem hiesigen Kinderheim zu ermöglichen. Kamen zunächst alljährlich zehn Kinder in die Kurstadt, waren es ab 1962 sogar 20 Plätze, die bereitgestellt wurden. Allein zwischen 1956 und 1964 wurde so 117 Mädchen und Jungen ein Kuraufenthalt ermöglicht, der Stadt entstanden Kosten in Höhe von rund 25.000 Mark.

Stadt spendiert zum Abschied Süßigkeiten

Anfangs teilten sich das Kinderheim Asental und das Kinderheim Götze an der Moltkestraße die Kinder auf – die Stadt übernahm im Nachgang die entstandenen Kosten. Und nicht nur das: Rechnungen belegen, dass die Stadt jedem Kind zur Abreise eine Tafel Schokolade und einen Beutel Bonbons spendierte, ein ander Mal gab es passend zur Jahreszeit eine Ostermischung.

Ab 1958 kamen die Kinder ausschließlich im Haus Asental unter. 1959 lud das Heim sogar ein elftes Kind auf eigene Kosten ein. Alle Kinder fühlten sich sehr wohl, teilte eine der Einrichtungsleiterinnen der Verwaltung mit. „Das Heim wird sich alle Mühe geben, den Kindern zu einer rechten Erholung zu verhelfen", heißt es.

Noch 1962 sollen die Kinder durchweg aus sozial schwachen und zum Teil traurigen Verhältnissen gekommen sein. Im Laufe der Jahre kam es bei der Belegung der Plätze allerdings immer wieder zu Schwierigkeiten – trotz Zusagen wurden teils weniger Kinder geschickt als vereinbart, dann kamen Jungen und Mädchen, die eigentlich völlig gesund waren. Das Ziel, etwas Besonderes für Berliner Kinder zu tun, die dringend der Erholung bedurften, sei damit laut Verwaltung „ganz sicher nicht erreicht worden", heißt es in Unterlagen der Stadt von 1964.

Auswahl der Kinder sollte künftig sorgfältiger getroffen werden

Denn es sei sicher nicht im Sinne des Ratsbeschlusses gewesen, Gelder für Kinder bereitzustellen, deren Eltern finanziell durchaus in der Lage wären, diese auf eigene Kosten zur Erholung schicken. So soll etwa das Kind eines angeblich gut situierten Zahnarztes im Heim Asental untergekommen sein. Trotzdem entschied man sich, das Projekt fortzuführen, um „dazu beizutragen, die schwierige Situation Berlins und seiner Bevölkerung mildern zu helfen." Aber: Man forderte, dass die Auswahl der Kinder künftig sorgfältiger getroffen werden sollte.

Ob und wie es nach 1966 mit der städtischen Finanzspritze für Berliner Kinder weiterging, geht aus den Akten nicht hervor.Andrea Nick ist zwischenzeitlich einmal mit ihrem Mann in Bad Salzuflen gewesen. „Da kam einiges hoch", erzählt sie von dem Moment, als sie vor dem ehemaligen Heim stand. „Es war komisch, irgendwie bedrückend." Bad Salzuflen sei eine so schöne Stadt. Sie finde es schade, dass der Ort für sie so negativ behaftet sei.

Große Anzahl an Kinderkurheimen in Bad Salzuflen

Wie viele Kinderkurheime es ab Ende des 19. Jahrhunderts und im Laufe der Jahre gegeben hat, das lässt sich heute schwer nachvollziehen, sagt Stadtarchivar Arnold Beuke. Aber: Inserate in Wohnungsanzeigern, dem Vorläufer der Hotel- und Pensionskataloge, geben zumindest einen kleinen Anhaltspunkt.

Sonja Beinlich, Mitarbeiterin im Stadtarchiv, hat die derzeit bekannten Einrichtungen herausgesucht. Und es sind mehr als gedacht – zu verschiedenen Zeitpunkten lassen sich allein 16 privat geführte und sieben Kurheime in unterschiedlicher Trägerschaft nachweisen. Bei manchen sind mehr Details bekannt, bei anderen ist nicht einmal klar, wie lange es die Heime gab oder wer sie betrieben hat. Ein Überblick.

Kinderkurheime

Kinderheilanstalt Bethesda, Moltkestr., Betreiber: Evangelisch, Diakonissen aus Bethel bzw. Detmold; Betrieb: 1875-1970. Betten: 460 (1952).

Sophienhaus, Sophienstr. 5. Betreiber: Vaterländischer Frauenverein, später DRK; 1895-1955. Betten: 100 (1909).

Vinzenzhaus, Wenkenstr. 31. Betreiber: Katholisch, Franziskanerinnen; 1911. Betten: 77 (1952).

Josefshaus (Mutter-Kind-Kurheim), Wenkenstr. 33. Betreiber: Franziskanerinnen; 1911.

Haus Roseneck/Villa Dürkopp, Obernbergstr. 2. Betreiber: Bundesbahn-Sozialwerk. Betten: 120 (1943).

Kindererholungsheim der Ernst-Tengelmann-Stiftung, Gröchteweg 114. Betreiber: Essener Steinkohlebergwerk AG; 1937-1965. Betten: 60 (1943 und 1952).

Erholungsstätte der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt (NSV), verlängerte Parkstraße. Betten: 256 (1943).

Private Kinderkurheime

Kinderkurheim (KKH) Grieß-Usinger, Hermann-Löns-Str. 2. Betreiber: Aenne Usinger; 1953. Betten: 13.

KKH Götze, Moltkestr. 2a. Betreiber: H. Goetze bis 1954, Paula Hagen bis 1963. Betten: 16-18.

KKH Sonnenschein, Moltkestr. 36. Betreiber: Julie und Hedwig Müller; 1911-1954, danach Fremdenheim bis 1980. Betten: 20-30.

KKH Kreft, Wellenfeldstr. 3, Betreiber: Auguste Kreft; 1953. Betten: 20. (NSV)

KKH „Glückauf", Wellenfeldstr. 7. Betreiber: Anna Stickdorn; 1914-1953. Betten: 28.

KinderpensionLandhaus Kölling, Loose. Betreiber: Geschwister Kölling; 1953.

Kinderheim Dr. Röckemann, Wenkenstr. 41. Betreiber: Dr. Röckemann; 1947-1956. Betten: 17.

Kinderheim Asental, Stauteichstr. 72a. 1954-1983. Kindererholungsheim, Friedrich-Ebert-Str. 11. Betreiber: Emilie und Auguste Wagner; 1937-1951. Betten: 25.

Säuglingsheim Krüger, Alte Vlothoerstr. 16 und Bandelstr. 1. Betreiber: Schwester Erika Krüger; 1936-1949. Betten: 6.

Kinderheim Wagner, Gröchteweg 114; vermutlich bis 1935.

Kinderpension Villa Rothert „für Kinder gebildeter Stände", Parkstraße, um 1906.

Villa Helene, Parkstr. 51, dann Wenkenstraße 47. Betreiber: Emilie Stüde; 1906/1911.

Vollmann’s Kindererholungshaus, Kurpark, Betreiber: Marie und Hedwig Vollmann, um 1913.

Haus Hildegard, Rudolf-Brandes-Allee 2. Betreiber: P. Römer. Betten: 20.

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