Detmolder Schüler reisen in ein verschwundenes Land

Detmold. Man muss schon um die 50 Jahre oder älter sein, um noch eine Erinnerung an die DDR und die deutsche Wiedervereinigung zu haben. Wer nach 1990 geboren wurde, kennt nur Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen. Doch was war die Deutsche Demokratische Republik? Wolfgang Reiche, einst DDR-Bürger, erzählte Schülern der zehnten Klassen der Gustav-Heinemann-Schule jetzt vom Leben im anderen deutschen Staat - und warum er diesen verlassen hat.

Reiches Besuch war Teil eines Projekttages, den die Oberstufenlehrer Louis Schachtschneider und Oliver Laschke zusammen mit Alina Schulz von der Deutschen Gesellschaft e.V. organisiert hatten. Der Verein organisiert unter anderem Workshops mit Zeitzeugengesprächen zur DDR und deutschen Einheit für Förderschulen.

Wolfgang Reiches Lebensgeschichte ist - eher zufällig - mit zwei historischen Wendepunkten der innerdeutschen Geschichte verknüpft: dem Mauerbau 1961 und ihrem Fall 1989. Geboren wurde er am 13. August 1947 im kleinen Ort Tabarz im heutigen Thüringen - exakt 14 Jahre vor dem Mauerbau in Berlin, wie eine Schülerin wusste.

Er hatte sechs Geschwister, besuchte die Polytechnische und erweiterte Oberschule in Gotha. Er sei in der &bdquo;Gesellschaft für Sport und Technik“ aktiv gewesen, weil er dort seinen Hobbys habe nachgehen können - wohl wissend, dass dabei eine wehrtüchtige Erziehung im Vordergrund stand. In der Schule sei es nicht ganz so gut gelaufen, da er als Fahrschüler oft den Unterricht verpasst habe und wegen mangelhafter Russisch-Kenntnisse - in der DDR die erste Fremdsprache - beinahe nicht versetzt worden sei.

Ein schlechtes Bild vom Westen In Gedanken sei er damals schon auf der Flucht gewesen. &bdquo;Ich war auf der Suche nach der Wahrheit. In der DDR wurde ein schlechtes Bild vom Westen gezeichnet, ohne dass wir das überprüfen konnten.“ Die Familie plante die Flucht in den Westen. Der Vater habe ihn und seine Geschwister am 12. August 1961 zu einer Tante nach West-Berlin gebracht. Die Mutter habe er am nächsten Morgen vom Ostbahnhof ab- und nachholen wollen. &bdquo;Doch mitten in der Nacht wurde plötzlich die Grenze zwischen Ost- und West-Berlin dichtgemacht. Das konnte ja keiner ahnen“, erinnert sich Reiche an diesen sehr speziellen 14. Geburtstag.

Die Familie sollte zusammenbleiben, die Kinder gelangten unauffällig in den Osten zurück, der Vater sei anderntags ganz normal zur Arbeit gegangen - der Fluchtversuch blieb unentdeckt. Wolfgang Reiche begann, sich unwohl zu fühlen. Seinen Traumberuf Radio- und Fernsehtechniker konnte er nicht ergreifen, das sehr behütete Leben in der DDR stellte ihn nicht zufrieden. Er schmiedete Fluchtpläne. &bdquo;Widerständler war ich aber nicht, ich hatte auch keinen politischen Standpunkt.“

Am 6. Oktober 1964 sei er mit dem Moped nach Norden in den kleinen Ort Netzkater gefahren. Dort sollte es eine Stelle an der Grenze geben, die nicht vermint war. Es war kalt und nebelig, was sein Vorteil war. Denn als er beim Überklettern des Zaunes den Signaldraht auslöste, hatten die Grenzposten kein Ziel, auf das sie schießen konnten. Reiche hechtete über den Minengürtel und rannte, bis er ein Schild des Bundesgrenzschutzes sah und sich in Sicherheit wusste. Er hatte ein Riesenglück gehabt.

Familie war ahnungslos Die Familie habe von all dem nichts gewusst, sagte Reiche auf Nachfrage. &bdquo;Die hätten sonst Probleme bekommen.“ Natürlich sei es nicht schön gewesen, von ihr getrennt zu sein. Acht Jahre habe es gedauert, bis er nach einer Generalamnestie für Republikflüchtlinge wieder offiziell in die alte Heimat zu seiner Familie reisen konnte. Bereut habe er seine Flucht dennoch nicht: &bdquo;Ich habe nie in Erwägung gezogen, in die DDR zurückzugehen.“

Beruflich lief es für Wolfgang Reiche auch in der BRD nicht so rund wie erhofft. Er nahm sich längere Auszeiten und begann, die Welt mit dem Fahrrad zu erkunden. 1989 fuhr er mit dem Rad entlang der chinesischen Seidenstraße nach Peking, von dort mit dem Zug nach Moskau und weiter mit dem Ost-West-Express nach Berlin. Als er am 9. November mit seinem Reisebegleiter am Bahnhof Zoo ausstieg, seien sie völlig überrascht gewesen von feiernden Menschenmassen - sie hatten während der Fahrt nicht mitbekommen, dass in der Nacht de facto die Mauer geöffnet worden war. &bdquo;Wir sind dann über eine Bundesstraße mit dem Fahrrad durch die DDR in Richtung Hamburg gefahren und wurden in Westdeutschland als erste Ostler gefeiert, die mit dem Rad kamen - und mit Bananen beschenkt“, erinnert sich Reiche schmunzelnd.

Er beantwortete etliche Schülerfragen zum Leben in der DDR, etwa, ob man dort Russisch sprach, und auch zu seinen Rad-Weltreisen. Und gab den Schülern als Fazit mit auf den Weg: &bdquo;Das Kostbarste an meinen Reisen ist die Gastfreundschaft, die mir als Fremdem überall auf der Welt entgegengebracht wurde.“

Detmolder Schüler reisen in ein verschwundenes Land

Opferbeauftragte: «Demokratie keine Selbstverständlichkeit»

Inhaftiert in Bautzen oder Hoheneck: Warum dieser Alptraum eine Salzuflerin verfolgt

Henry Matz hat die eigene Knasttür im Büro

Flucht aus dem System: «Jenseits der blauen Grenze»

«Good Bye, Lenin»-Regisseur Wolfgang Becker mit 70 gestorben

Bad Meinbergerin wird im Stasi-Gefängnis inhaftiert - und nach Lippe abgeschoben

Lippische Landes-Zeitung: Nachrichten aus Lippe, OWL und der Welt

Weiterlesen mit LZplus!

0,99 Euro im ersten Monat

Weiterlesen mit LZplus