

Detmold-Pivitsheide V.H (te). Ein Teil lippischer Vergangenheit, der in vielerlei Hinsicht noch in die Gegenwart reicht, ist jetzt erstmals Gegenstand einer wissenschaftlichen Betrachtung. Historiker Dr. Hans-Gerd Schmidt aus Pivitsheide V.H. hat sich der 68er-Bewegung in Lippe angenommen: der Zeit der Kommunen, der Jugendzentrumsbewegung und der Beatmusik.
520 Seiten umfasst das Buch, mehr als 400 Abbildungen sind enthalten. Mehr als 120 Interviews hat Schmidt dafür geführt, insgesamt spiegelt das Buch gut sechs Jahre Forschungsarbeit wieder. Im zweiten Halbjahr 2013 soll es erscheinen.
"Die 68er" - die unter diesem Kürzel zusammengefassten Bewegungen eines Aufbruchs und verschiedener Abwege waren kein Phänomen von Berlin und Frankfurt, das zeigt Schmidt deutlich. Er hat etliche Felder ermittelt, in denen sich die 68er-Bewegung in der lippischen Provinz niederschlug: Von Anti-AKW-Protest bis in die Kunst hinein. "Die Provinz war Laboratorium und Werkstatt", sagt Schmidt. "Hier wurde ausprobiert, was man mit den neuen Ideen, die da kamen, machen kann."

Am Ende sind etliche Experimente gescheitert, anderes aber hat Bestand oder ist in neuen Formen wiederzufinden. Auf jeden Fall habe die Umbruch-Epoche zu einer "Entprovinzialisierung" Lippes beigetragen, zieht der pensionierte Lehrer ein Fazit.
Weniger linke Theorie sieht Schmidt in Lippe am Werk, sondern eher eine Strömung, die ähnlich der "New-Left"-Bewegung in den USA ausgerichtet war - auf radikale Demokratie, Provokation der Machthabenden, gemischt mit Elementen der Jugendkultur.
Und wie war sie nun, diese vornehmlich jugendliche Lebenswelt um 1968 Folgende? Für Hans-Gerd Schmidt ist klar: Sie hatte den Beat. Die Musik sei ein großes Thema in der lippischen Provinz gewesen, sagt er. Sie war der erste Konfliktpunkt zwischen den Generationen, denn mit der Beatmusik sei ein neues Körpergefühl eingezogen.
Bewusst lässt Schmidt dieses Kapitel daher auch mit dem RocknRoll der 50er Jahre beginnen, der Beat der 60er aber habe dazu geführt, dass viele musikalisch selbst aktiv werden wollten. "Das war ein großes Merkmal der Zeit: Wir machen unsere Sache selbst", sagt Hans-Gerd Schmidt.
Und das galt auch für die Jugendzentrumsbewegung der 70er Jahre. Allein neun autonome Jugendzentren entstanden in dieser Zeit von Kalletal bis Oerlinghausen. Schon ein Jahrzehnt später indes bröckelte die Selbstverwaltung und -gestaltung, hat Hans-Gerd Schmidt recherchiert. Vor allem, weil langsam aber sicher der Blick weg von der Gruppe hin zum Individuum wanderte.
Hier, so haben Schmidts Untersuchungen ergeben, liegt auch ein Moment für das Scheitern der "Landkommunen", die es in Lippe in unterschiedlichen Ausprägungen gab. Einige versuchten, komplett dem Privateigentum und der Privatheit an sich zu entsagen, andere wollten gemeinsam ländlich leben oder aber aus der Kommune heraus politische Arbeit leisten.
"Immer ging es auch um Selbsternährung und Selbstständigkeit", erläutert Schmidt. Doch irgendwann gaben alle auf. Weil sich eben doch nicht jeder so engagiert habe wie gewünscht war, weil Differenzen über den richtigen Weg des Zusammenlebens auftauchten oder der Wunsch nach Privatem wuchs. "Das bürgerliche Leben kam durch die Hintertür wieder rein", hat einer der Gesprächspartner dem Historiker berichtet.
Pionierarbeit
Vom RocknRoll bis zur Gründung der Grünen in Lippe schlägt Dr. Hans-Gerd Schmidt in seinem Buch den Bogen. Dabei war die Quellenlage für den Historiker eher dünn. Die bekannten Archive hätten nur sehr wenig bieten können, schildert er; die "mentalen Archive" seiner Gesprächspartner allerdings brachten eine Fülle an Informationen hervor.
Schmidt, der viele Jahre Lehrer an der Fachschule für Sozialpädagogik in Detmold war, interessiert sich für jugendliche Lebenswelten. Bei seiner Untersuchung leitete ihn die Frage, wie die junge Generation nach 1968 die gesellschaftlichen Realitäten in ihrer Zeit und ihrer Region ver- und bearbeitet hat. Denn Elterngeneration, Autoritäten, konservative Politik, aber auch große Teile der SPD standen der Jugendbewegung hier laut Schmidt ablehnend bis skeptisch gegenüber.