#MeToo - Wie wir sexuelle Belästigung wahrnehmen

Kreis Lippe. Jede zweite Frau soll laut einer Studie schon mal in ihrem Leben sexuell belästigt worden sein. Seit Kurzem teilen viele Frauen - und einige Männer - ihre Erfahrungen im Internet unter dem Hashtag #MeToo. Vier Journalistinnen wollen sich an diesem trüben Herbsttag über genau das Thema unterhalten: Jede einzelne kann von einschlägigen Erlebnissen berichten. Plural, wohlgemerkt. Und: Es zieht sich durch die Generationen. Geändert hat sich kaum was.

Nicht nur darin sind sich Kulturexpertin Ilse Franz-Nevermann, Jahrgang 1933, Online-Chefin Silke Buhrmester (1968), Online-Redakteurin Yvonne Glandien (1986) und Praktikantin Alina Hetland (1993) einig. Wann fängt Belästigung an? Die Antwort: &bdquo;Kommt ganz drauf an." &bdquo;Für mich hängt das vom Kontext ab", sagt Yvonne Glandien: &bdquo;Wenn ich in der Kneipe flirte und jemand macht mir ein Kompliment zu meinem Dekolleté, dann ist das okay. Bei der Arbeit wäre das ein No-Go."

Silke Buhrmester nickt: &bdquo;Es kommt für mich auch immer auf die Hierarchie an: Bei jemandem, den ich gut kenne, reagiere ich ganz anders als im Job." Ilse Franz-Nevermann hat die Verbrüderung in Männerrunden schon häufig erlebt, diese Abwertung der Frauen an sich: &bdquo;Mich haben schon in den 50-er Jahren diese unterschwelligen Andeutungen gestört, mit denen Männer Frauen herabgesetzt haben", erzählt sie. Aber auch das hat sie erlebt: Die mangelnde Solidarität unter Frauen. Wer wie sie ihren Weg ging, beruflich als Redakteurin wie privat als Single, musste sich einige Sprüche anhören. &bdquo;Und wer nach einem Liebhaber einen anderen hatte, war eine Schlampe, wer keinen hatte, frigide." Anzüglichkeiten und Grabscher hat Ilse Franz-Nevermann zuhauf erlebt: &bdquo;Das habe ich immer an mir abperlen lassen." Auch, als Frau an der Bar angebaggert zu werden. &bdquo;Sie waren stockbeleidigt, wenn sie abgeblitzt sind."

Die Grenze zwischen Kompliment und Belästigung Aber nicht jeder will es kapieren, weiß Yvonne Glandien: &bdquo;Ist mir gerade passiert, ich wollte noch ein Bierchen trinken, und schon meinte einer, ich müsste doch dringend mit ihm weggehen. Mein klares Nein hat er einfach nicht akzeptiert, am Ende hat er sich sogar einfach hinter mich gestellt und versucht, sich an mir zu reiben." Gelangt hat sie ihm keine: &bdquo;Aber ich habe gemacht, dass ich wegkam und den Wirt gebeten, ihn mal zur Ordnung zu rufen." Was der auch tat.

Kneipenflirt kann auch nett sein, meint Alina Hetland. &bdquo;Und wenn einer mein Aussehen kommentiert, dann kann ich das durchaus als Kompliment sehen. Ich würde mich dann nicht auf meine Körperlichkeit reduziert sehen."

Verletzender empfindet sie, was sich manchmal im Bekannten- und Freundeskreis abspielt. &bdquo;Manche Typen scheinen Frauen als Trophäen, als Schmuckstücke zu betrachten." Auch ihr fehlt mitunter Solidarität der Geschlechtsgenossinnen, denen sie sich anvertraute: &bdquo;Mir wurde einfach nicht geglaubt. Es könne doch nicht so schlimm gewesen sein." Ein Schlag ins Gesicht einer Frau, die zwar Nein gesagt, aber sich nicht körperlich gewehrt hat. &bdquo;Man macht sich selbst Vorwürfe und schämt sich."

Es sind nicht immer Fremde Vertrauensmissbrauch im Freundes- und Bekanntenkreis, kennen auch die anderen: Silke Buhrmester hat schon mal bei einer Feier erlebt, dass einer unterm Tisch zudringlich wurde – und das nur einen Meter von der Ehefrau entfernt. &bdquo;Das hat mich vollkommen schockiert, zumal ich mit beiden befreundet war." Sie flüchtete von dem Tisch. Warum hat sie keine Szene gemacht? – Aus demselben Grund, aus dem auch Ilse Franz-Nevermann zu ihrer Zeit Ehemänner, die ihre Hände nicht bei sich halten konnten, nicht bloß gestellt hat: &bdquo;Das hätte doch die Partnerinnen der Männer verletzt, und das wollte ich nicht."

Das meiste, worüber das Quartett hier spricht, fällt wohl nicht in den justiziablen Bereich. Doch auch der kommt zur Sprache. Yvonne Glandien hat auf Facebook darüber geschrieben, wie sie auf dem Nachhauseweg überfallen worden ist. Nur ihr lautes Schreien und ihre erbitterte Gegenwehr haben sie vor der Vergewaltigung gerettet. &bdquo;Das hat mich nicht traumatisiert. Aber schlimm fand ich die Kommentare nach dem Motto: Was läuft sie denn auch nachts im Dunkeln durch Detmold." Die junge Redakteurin hat für sich entschieden: &bdquo;Angst kommt von Enge, und ich will mich nicht einengen lassen", und sie lässt es sich auch weiter nicht nehmen, nachts nach Hause zu laufen.

Was ist mit der Angst? – Keine der Vier in der Runde fürchtet nächtliche Übergriffe. &bdquo;Aber wenn ich unterwegs bin, nehme ich immer eine besonders aufrechte Haltung ein", erzählt Silke Buhrmester. &bdquo;Vor fremden Menschen habe ich keine Angst", betont Alina Hetland. Keine der vier will Opfer sein, sich einschränken müssen, weil sie Frauen sind.

Eine gute Stunde hat das Quartett nun darüber geredet, wie es ist, Frau zu sein. Aber was bringt das eigentlich? Wird sich irgendwas ändern in der Gesellschaft, nur weil die LZ - wie viele andere Zeitungen - Frauen zu Wort kommen lässt, die von ihren Erfahrungen mit Diffamierungen, Belästigungen und Übergriffen berichten? – Ein vierfaches energisches Kopfschütteln. Die Jüngste im Bunde fasst zusammen, was die anderen offensichtlich ähnlich empfinden: &bdquo;Männer werden ihr Verhalten eher nicht ändern. Aber wenn Frauen darüber reden, dann holt es sie aus der Stigmatisierung. Es zeigt: Es geht Tausenden genauso wie mir, ich bin da nicht allein. Und das ist doch immerhin etwas."

"Wir brauchen Solidarität" Kommentar von Marianne Schwarzer Nein, wir brauchen keine neuen Statistiken. Denn jede von uns kann ein Lied über indirekten und direkten Sexismus singen, wir alle haben ihn von Kindesbeinen an erlebt. Da hat sich auch seit den 50-er Jahren nicht allzu viel verändert. Sind wir Zielscheiben? – Mitunter. Sind wir Opfer? – Manchmal. Mal mehr, mal weniger, sicher zu oft. Aber es geht nicht darum, Klagelieder zu singen über das geschundene Geschlecht.

Frauen sollen natürlich über ihre Erfahrungen sprechen, Männer übrigens auch. Das zeigt den anderen: Du bist nicht allein, und es schafft vielleicht ein Stück mehr Sensibilität und Solidarität. Sexuelle Belästigung nicht schweigend hinnehmen, die Täter – mitunter auch die Täterinnen – beim Namen nennen: Das ist richtig. Doch wenn sich unsere Gesellschaft ändern soll, müssen wir raus aus der kollektiven Opfernummer. Wir müssen lernen, souverän, stark – und vor allem solidarisch mit dem Thema umzugehen, ohne die Betroffenen klein zu machen. Und ohne in jene Hypersensibilität zu geraten, mit der wir uns das Leben auch gern schwer machen.

Nennen wir die Dinge beim Namen. Eine Vergewaltigung ist ein schlimmes Verbrechen. Grabschen ist ein Übergriff und eine Verletzung der körperlichen Unversehrtheit. Blöde Sprüche können verletzen. Aber manchmal sind sie eben auch nicht mehr: Blöde Sprüche.

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