Jugendämter stehen in der Pandemie unter Druck

Kreis Lippe. Können Kinder trotz Isolation in der Pandemie noch ausreichend geschützt werden? Eine Recherche von CORRECTIV offenbart erhebliche Defizite in sozialen Kontrollsystemen. In den Ämtern arbeiten viele im Homeoffice, Hausbesuche werden nur in dringenden Fällen gemacht und persönliche Gespräche sind nur bedingt möglich. Das zeigen Antworten von 46 Jugendämtern in NRW. Darunter auch Bad Salzuflen, wo es im Jahr 2020 knapp ein Drittel weniger Hausbesuche gab als im Jahr zuvor. Dennoch sieht die Salzestadt, genau wie die anderen lippischen Jugendämter, den Kinderschutz sichergestellt.

Besorgniserregend sei jedoch eins, hält das Salzufler Jugendamt fest: Die häuslichen Konflikte hätten durch den äußeren Druck, den Rückzug in die eigenen vier Wände und den Wegfall der Freizeitangebote massiv zugenommen. Die problematische Situation belegen Zahlen. Insbesondere die Meldungen zu Kindeswohlgefährdung, Verdacht auf Gewalt, Misshandlungen oder Vernachlässigungen, so genannte 8a-Meldungen, sind im Pandemiejahr 2020 deutlich angestiegen. Der traurige Trend lässt sich im gesamten Kreis Lippe beobachten. Mit insgesamt 974 eingegangenen Meldungen bei den städtischen Jugendämtern in Detmold, Bad Salzuflen, Lage, Lemgo und dem Kreisjugendamt, zuständig für die zwölf weiteren Städte und Gemeinden im Kreis Lippe, ist die Anzahl der zu prüfenden Fälle im Vergleich zum Vorjahr um erschreckende 49 Prozent gewachsen. Im Jahr 2019 waren es nur 654 solcher Meldungen, zeigt eine gemeinsamen Kooperation von CORRECTIV.Lokal und der LZ.

Anstieg der Meldungen zu Kindeswohlgefährdung besorgniserregend

Das Jugendamt der Stadt Lage bezeichnet die gestiegenen Meldungen als größte Herausforderung der Pandemie – der Anstieg ist überall spürbar, obwohl verlässliche Meldesysteme wie Schule und Sportvereine weggefallen seien, wie das Lemgoer Jugendamt bemängelt. Innerhalb eines Jahres sind allein in Lage die 8a-Meldungen von 128 auf 208 hoch geschnellt. Das bedeute nach Angaben von Pressesprecherin Ulrike Busse auch eine größeren Belastung für das Team, denn jeder eingegangenen Meldung gehe das Jugendamt durch Hausbesuche mit zwei Mitarbeitenden nach. Auch in Bad Salzuflen sind Gefährdungsmeldungen – wie überall in Lippe – angestiegen: hier von 55 auf 75. Zum Vergleich: 2016 hatte es im Salzufler Jugendamt gerade einmal 25 Anzeigen dazu gegeben (2017: 39, 2018: 31). Die Zahlen ließen sich leicht einordnen. &bdquo;In den letzten Jahren ist eine wachsende Sensibilisierung für Kinderschutzthemen festzustellen", teilt Sprecherin Peggy Gajewi dazu mit. Es scheint demnach nicht bloß an der Pandemie zu liegen, dass mehr Menschen Situationen anzeigen, in denen sie eine Kindeswohlgefährdung erkennen oder vermuten, auch die Gesellschaft sei aufmerksamer geworden.

Keiner will sich nach Lügde Fehler erlauben

Obwohl es durch die coronabedingten Einschränkungen an sozialen Kontrollinstanzen fehlt und es NRW-weit weniger Hausbesuche gibt, sehen lippische Jugendämter keine Gefahr, ihren Pflichten nicht nachkommen zu können. Jedem Verdacht auf Kindeswohlgefährdung werde nachgegangen, der Kinderschutz sei kreisweit gewährleistet. Gerade in der Region Lippe könnte sich kein Jugendamt mehr Fehler erlauben, scheint bei vielen das unausgesprochene Mantra zu sein. &bdquo;Wir stehen immer noch unter dem Eindruck von Lügde", sagt Thomas Portong, Lemgos Geschäftsbereichsleiter Jugend und Schule. Zu Beginn der Pandemie habe man im Lemgoer Jugendamt Homeoffice ausprobiert, sich dann aber schnell wieder dagegen entschieden. &bdquo;Wir haben nach ein paar Wochen gemerkt, dass es bremsende Effekte haben könnte", gibt Portong zu. Die meisten Gespräche in den Hilfe- und Beratungsfällen seien im Online-Setting deutlich schwerer durchzuführen. Die Jugendämter arbeiten daher überwiegend mit wechselnden Teams und Schichtsystemen, um Ausfälle zu vermeiden und die Kommunikationsketten aufrecht zu erhalten.

Nach Einschätzungen der Stadt Bad Salzuflen sei dennoch der persönliche Kontakt zu Jugendlichen, Kindern und ihren Familien stark eingeschränkt. &bdquo;Es werden nur zwingend notwendige Termine vereinbart. Eine Begleitung der Familien, wie sie vor der Pandemie stattgefunden hat, ist derzeit nicht möglich", heißt es von der Stadt. Das Problem liege aber nicht bei den ausführenden Institutionen, findet Heike Rosner, Erziehungsleitung der St. Elisabeth Stiftung in Detmold. Die Zusammenarbeit mit Polizei und Jugendämtern laufe weiterhin gut, meint sie. &bdquo;Da sehe ich keine Unterschiede, aber durch die Pandemie sind natürlich die eh schon benachteiligten Familien doppelt betroffen." Wer bisher nicht im schützenden System gelandet sei, der laufe eben weiter unter dem Radar. Und das obwohl auch die freien Träger ihre Arbeit in mobilen Teams so gut es ginge fortführten.

Kein Anstieg bei Inobhutnahmen

Auch Anton Schuff, Leiter des SOS-Kinderdorfers in Schieder-Schwalenberg findet, dass sich die Situation im Vergleich zum Beginn der Pandemie wieder verbessert habe. &bdquo;Die Hilfesysteme sind offen, das ist auch verdammt wichtig", sagt der Einrichtungsleiter. In der Blomberger Beratungsstelle hatte es während des ersten Lockdowns gar ein Verbot gegeben, die Räume zu betreten, das sei während des zweiten Lockdowns glücklicherweise nicht mehr verlangt worden. Dazu könnten auch Hilfeplangespräche mal digital, mal persönlich stattfinden. Auch auf das SOS-Kinderdorf scheint jedoch die angespannte Gesamtsituation überzuschwappen. &bdquo;Wir haben unheimlich viele Anfragen, die Plätze sind voll", erklärt Anton Schuff.

Dennoch gibt es rein statistisch 2020 nicht mehr Inobhutnahmen. 259 Kinder sind von lippischen Jugendämtern aus den Familien genommen worden, ein Jahr zuvor waren es mit 287 sogar etwas mehr (2018: 239). Entscheidend sei für viele Jugendämter in der jetzigen Situation vor allem, dass soziale Ungleichheiten nicht noch weiter verstärkt werden dürften, da sei die Politik gefordert. &bdquo;Der geforderte Rückzug in die Familie und die eingeschränkten Möglichkeiten zur Persönlichkeitsentfaltung haben Rückwirkungen auf die Identitätsfindung von Kindern und Jugendlichen", fasst die Stadt Bad Salzuflen zusammen. Welche Konsequenzen daraus gerade in benachteiligten Familien resultieren könnten, sei derzeit gar nicht abzusehen.

Kooperation mit Correctiv

Diese Recherche ist Teil einer Kooperation von der LZ mit CORRECTIV.Lokal, einem Netzwerk für Lokaljournalismus, das datengetriebene und investigative Recherchen gemeinsam mit Lokalredaktionen umsetzt. CORRECTIV.Lokal ist Teil des gemeinnützigen Recherchezentrums CORRECTIV, das sich durch Spenden von Bürgern und Stiftungen finanziert. Mehr Infos gibt es im Internet unter correctiv.org/haeusliche-gewalt.

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