
Kreis Lippe. Methylphenidat, bekannt als Ritalin, Medikinet und Equasym, können nur noch Ärzte mit Fachkunde für Verhaltensstörungen verschreiben - also ein Kinder-, Jugendpsychiater oder Kinderarzt. Hausärzte dürfen das Medikament, das unters Betäubungsmittelgesetz fällt, nur verordnen, wenn das Kind einem Fachkollegen vorgestellt wurde und notwendige Therapien vorgenommen werden. Psychotherapien, Elternberatung und aufwendige Diagnostik sollen sicherstellen, dass ein Kind tatsächlich so hyperaktiv ist, dass es Ritalin braucht.
Verschreibt Ihre Zunft zuviel Ritalin, um "Problemkinder" ruhig zu stellen?
Dr. Rudolf Jebens: Vielleicht zu leichtfertig, das trifft es eher. Allein nüchterne Zahlen legen die Vermutung nahe: In den vergangenen 15 bis 20 Jahren hat sich der Absatz von Methylphenidatprodukten - dazu gehört Ritalin - ums 80-fache erhöht.

Dann sind auch 80 mal mehr Kinder behandlungsbedürftig?
Jebens: Keineswegs. Zwar ist das Aufmerksamkeitsdefizit als Störung im Hirnstoffwechsel anerkannt. Es betrifft aber fünf oder sechs Prozent der Kinder – während ich davon ausgehe, dass viel mehr das Medikament bekommen, obwohl sie es nicht benötigen. Umgekehrt wird es auch Kinder geben, die eine Behandlung bräuchten.
Wie kommt es zu Fehlern?
Jebens: Die Diagnose ADHS ist scheinbar einfach zu stellen: Ein Kind kann sich schlecht konzentrieren, ist hyperaktiv und neigt zu impulsiven Handlungen. Doch diese Symptome finden sich auch bei vielen gesunden Kindern oder bei psychischer Krankheit, die direkt nichts mit ADHS zu tun hat.
Ritalin hilft trotzdem?
Jebens: Die Kinder werden ruhiger und können sich besser konzentrieren. Also scheint sich die Diagnose zu bestätigen.
Zeigen mehr Kinder als früher ein Verhalten, das als ADHS fehlgedeutet werden kann?
Jebens: Durchaus. Vor allem Jungen sind betroffen. Über die Medien sind sie schnelle Reizwechsel gewohnt, sodass für sie eine ganze Schulstunde zum Fiasko wird.
Beginnt die typische "Ritalin- Karriere" daher in der Schule?
Jebens: Die Diagnose ADHS darf erst ab 6. Lebensjahr gestellt werden. Das Problem ist, dass Kinder unterschiedlich reif sind. Manche können sich mit fünf konzentrieren, andere brauchen bis sie sieben sind.
Früher gab’s die Vorschule
Jebens: Doch nun leider nicht mehr. Viele unruhige Kinder brauchen keine Medikamente. Ein geregelter Tagesablauf, Beschäftigung, verlässliche Regeln und eine tragfähige Bindung wirken Wunder.
Schadet Ritalin?
Jebens: Wir wissen noch zu wenig über Langzeitfolgen. Ritalin wurde früher seltener über viele Jahre gegeben, wie es heute immer häufiger ist. Früher hieß es, ADHS verliert sich in der Pubertät. Doch immer mehr Jugendliche bekommen Ritalin, die Dauer der Medikation hat zugenommen. Nebenwirkungen wie Wachstumsverzögerung, Appetitverlust oder hoher Blutdruck sind bekannt.
Also sofort absetzen?
Jebens: Nicht sofort - aber Einnahmepausen, die nicht nur in den Ferien liegen, muss es geben. Dann zeigt sich, ob das Medikament noch gegeben werden muss. Übrigens ist meine Beobachtung, dass viele Kinder und auch Jugendliche sehr genau beurteilen können, ob so ein Medikament langfristig wirkt oder nicht. Viele geben zu, sie würden es nur unregelmäßig nehmen und niemand in der Umgebung bemerkt es.
Eine verlässliche Diagnose scheint also unabdingbar.
Jebens: Voraussetzung ist, sich die Biographie auch der Eltern genau anzuschauen. Hatte die Mutter übermäßigen Stress in der Schwangerschaft? War das Kind ein Schreikind? Galt schon der Vater als schwer erziehbar und neigt er zu unbeherrschten Reaktionen? Ist das Kind einer Trennung ausgesetzt worden? Sind die Eltern komplett überfordert?
Da ist es von Vorteil, wenn nur Spezialisten Ritalin verordnen?
Jebens: Ja, Kinderärzte kennen die Familien in der Regel über Jahre. Wir Kinder- und Jugendpsychiater suchen nach Hinweisen, ob die Ursache für die Unruhe woanders liegt.
Wo beispielsweise?
Jebens: In der Erziehung und im Umfeld etwa. Das ist natürlich eine Vermutung, die bei Eltern Schulgefühle auslöst. Doch dieser möglicherweise unangenehmen Wahrheit müssen wir uns einfach stellen. Wir können ein Kind nicht für krank erklären, das nicht krank ist, und die Krankheit ADHS nennen, weil das vielleicht Schuldgefühle mindert. Die sind fehl am Platz, die meisten Eltern tun ihr Bestmögliches. Doch Kinder haben das Recht auf eine ordentliche Diagnose, zumal bei vielen zusätzliche Störungen vorliegen.
Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätsstörungen beginnen vielfach im Kindesalter. Betroffene haben Probleme, sich zu konzentrieren, sind impulsiv und oft hyperaktiv. Jungen sind häufiger betroffen als Mädchen. Dagegen eingesetzt wird unter anderem der Wirkstoff Methylphenidat - das bekannteste Präparat: Ritalin. Entwickelt wurde Methylphenidat 1944, seit 1954 ist es auf dem deutschen Markt, bis 1971 rezeptfrei. Verschrieben werden darf es Kindern ab einem Alter von sechs Jahren.