„Ich kann fast alles“: Wie ein blinder 89-Jähriger aus Lemgo selbstständig bleibt

Lemgo. Seit gut 30 Jahren ist Gerhard Steffen vollkommen blind. Der Lemgoer war bereits 60 Jahre alt, als er aufgrund einer Erbkrankheit sein Augenlicht komplett verlor. Heute ist er 89 und sagt: &bdquo;Ich kann fast alles, was Sehende auch können“. Dabei geholfen hat ihm sein Glaube, die Technik und vor allem wohl sein Wille.

Gerhard Steffen bittet den Gast in sein Wohnzimmer. Auf dem Tisch liegen diverse Geräte, die er im Laufe der Jahre bekommen hat und die ihm im Alltag helfen. Als seine Frau einen längeren Reha-Aufenthalt hatte, sei er vier Monate alleine zurecht gekommen, erzählt er. Steffen wirkt deutlich jünger, als sein Alter vermuten lässt. Er lacht: &bdquo;Das macht die viele Bewegung.“

Fast jeden Tag ist er in Lemgo unterwegs, in seinem Leben ist er viel gereist. Mindestens zehnmal, so schätzt er, ist er den Harzer Brocken hinauf gewandert. Da war er schon blind. Bis vor Corona hat er sich aufs Tandem gesetzt und lange Strecken zurückgelegt. Vorne saß der &bdquo;Pilot“, wie Steffen sagt, er hinten. &bdquo;Das war übrigens kein E-Bike, sondern ein mit Muskelkraft betriebenes Rad“, sagt er und lacht. Unter anderem ist er in Etappen von Detmold nach Xanten gefahren, eine Strecke von gut 200 Kilometern.

Selbstständig bleiben &bdquo;Mir war von Anfang an wichtig, dass ich selbstständig bleibe“, sagt Steffen. Unvorbereitet hat ihn die Erblindung nicht getroffen, bereits sein Vater habe aufgrund der Krankheit früh sein Augenlicht verloren. &bdquo;Man darf sich nicht gehen lassen“, sagt Steffen. Selbstmitleid sei seine Sache nie gewesen. Schnell habe er sich eine Lehrerin genommen, die ihm das Gehen mit dem Langstock beigebracht habe, dem sogenannten &bdquo;Blindenstock.“ Schnell dazu kam auch ein Vorlesegerät, bei dem er Texte unter eine Kamera hält, die ihm das Gerät, das ein bisschen aussieht wie ein kleiner Overheadprojektor, vorspricht.

Seitdem hat die Technik viele Sprünge gemacht. Heute besitzt Steffen auch eine kleine Kamera, die er sich an die dunkel getönte Brille heften kann und die ihm Texte vorliest, auf die er die Kamera richtet. &bdquo;Neuere Modelle können auch Türen erkennen und sich die Gesichter von Menschen merken“, sagt Steffen. Denn das könne er selbst nicht, &bdquo;auf Menschen zugehen.“ Jedenfalls dann nicht, wenn er ihre Stimme nicht hört.

Farben erkennen Farben dagegen kann Steffen mittels Technik erkennen. Das macht ein fernbedienungsgroßes Gerät möglich, das man beispielsweise auf Textilien legen kann und das einem auf Knopfdruck die Farbe nennt. &bdquo;Ich kann mich selbst passend anziehen, meine Frau muss mir nicht die Kleidung herauslegen.“ Der Drei-Farb-Sensor ermöglicht eine genaue Farbauflösung.

Wenn er zu seinen regelmäßigen Spaziergängen aufbricht, hängt Steffen ab und an die &bdquo;Fledermaus“ über die Brust. Das ist ein Gerät, das mit Ultraschall- und Infrarotsensoren arbeitet und so Hindernisse in bis zu drei Metern Entfernung erkennen kann und mittels Ton und Vibration warnt. Denn zwar kennt Steffen die Strecken, die er in Lemgo geht, aus dem Effeff, aber es gibt viele Unwägbarkeiten. &bdquo;Lkw-Fahrer müssen beim Abladen eigentlich Pylonen aufstellen“, sagt Steffen. Das täten aber längst nicht alle. &bdquo;So rennt man dann in die Ladeklappe, die auf Brusthöhe abgesenkt ist und die man mit dem Stock nicht ertasten kann“, berichtet er.

Nicht entmutigen lassen

Nicht missen möchte Steffen auch &bdquo;DAISY-Hörbücher“. Sie sehen aus wie herkömmliche CDs, die einzelnen Kapitel darauf sind aber gezielter anwählbar. Neben Büchern werden auch die großen Magazine und Wochenzeitungen unmittelbar nach Erscheinen zugänglich gemacht. Bestellt werden sie per Post. Dazu gibt es spezielle Abspielgeräte. Mittlerweile kann man sich die Dateien aber auch online herunterladen.

Mit einer Sache hat sich Gerhard Steffen bisher aber noch nicht eingehend beschäftigt. Und das sind die Möglichkeiten moderner Smartphones. &bdquo;Aber ich überlege, ob ich das demnächst doch noch mal tun soll“, sagt er. Denn eine Sache ist ihm nachdrücklich in Erinnerung geblieben. &bdquo;Ich war mit einer Gruppe Blinder wandern, und wir haben uns über das Navi führen lassen, das hat wunderbar geklappt.“

Wenn Steffen eine Botschaft hat, dann die, sich nicht entmutigen zu lassen und sich den Herausforderungen zu stellen. &bdquo;Es gibt viele ältere Menschen, die an AMD leiden“, sagt er. Dabei handelte sich um Altersbedingte Makuladegeneration (AMD) und beschreibt eine Erblindung im Alter, die zwar aufgehalten, aber bisher nicht geheilt werden kann.

Selbsthilfegruppe Dabei geholfen, seine Erblindung anzunehmen, habe ihm auch sein Glaube, sagt Steffen und zitiert zum Abschluss aus dem Buch &bdquo;Der kleine Prinz“ von Antoine de Saint-Exupéry: &bdquo;Man sieht nur mit dem Herzen gut. Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar.“

Gerhard Steffen ist auch Mitglied der Selbsthilfegruppe &bdquo;Blinddate“. Sie triftt sich jeweils am zweiten Donnerstag im Monat um 15 Uhr im Kastanienhaus, Kastanienwall 7. Kontakt unter 0173/5709916 (Martin Franke).

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