Lemgo. Johann Pauls geht es um jede einzelne Seele. Das wird schon beim ersten Kontakt deutlich. Es ist ein bedeckter Oktobertag, leichter Nieselregen. Ob man ihn kurz stören und ansprechen dürfe? Pauls, der auf dem kleinen Rasenstück am unteren Ende des Steinstoßes nahe der Ampel steht, nickt. Nur ein wenig zur Seite treten solle man doch bitte: Sonst seien seine Schilder für die Vorbeifahrenden nicht optimal zu sehen. „Jesus rettet“ steht auf einem der Plakate. „Bekehr dich!“ auf einem anderen. Pauls dreht sich jeweils in die Richtung, aus der mehr Verkehr auf ihn zuströmt. Ja, er werde anrufen, wenn er das nächste Mal an seinem Lemgoer Stammplatz ist, für ein Gespräch in Ruhe. „Haben Sie ein Evangelium zu Hause?“, fragt er beim Verabschieden, leise, aber eindringlich. Skoda mit Spezialaufbau Zehn Tage später ist er wieder da. Sitzt in seinem Skoda, den er wenige Meter entfernt geparkt hat, öffnet die Tür, bedeutet, Platz zu nehmen. In diesem zweckmäßigen Wagen mit der Bibel auf dem Armaturenbrett und dem riesigen Schild auf dem Dach. Er muss lachen, wenn er davon erzählt, wie es zu dem ungewöhnlichen Spezialaufbau kam. Natürlich hatte „der Herr“ auch hier seine Hände im Spiel, ist Pauls überzeugt. In einer Art Vision habe er ein solches Schild vor sich gesehen. Der Inhaber des Werbemittel-Geschäfts in Helpup, das er ansteuerte, reagierte weniger überrascht als angenommen: Seit Langem liege ein spezieller Magnet zur Befestigung einer solchen Infotafel im Schuppen. Niemand habe ihn brauchen können. Schnell war der Aufbau installiert. Zwar wurde Pauls mit dem Ding auf dem Dach schon von einem Motorrad-Polizisten angehalten, doch es sei alles in Ordnung und „abgesegnet“. 120 Stundenkilometer? Kein Problem. „Der Herr führt“, sagt Pauls. Das ist sein Credo. Er sei 78 Jahre alt, habe sechs Kinder und sei 1992 mit Frau und Familie als Spätaussiedler aus Kasachstan nach Deutschland gekommen. Erst hätten sie in Leopoldshöhe-Bechterdissen gelebt, dann in Bielefeld, wo er als Zahnarzt sein Praktikum, eine Art Anerkennungsjahr seiner medizinischen Ausbildung, absolviert habe. Später arbeitete er 15 Jahre lang als niedergelassener Zahnarzt in Lage, wohnte mit der Familie in Heiden. Zweimal im Straflager Er selbst habe damals nicht dringend nach Deutschland gewollt. Auch, „weil ich die Sprache nicht so gut kann. Das war eher der Wunsch meiner Frau und meiner Kinder“, so Pauls. Dabei wurde er für seinen offen gelebten Glauben in der ehemaligen Sowjetunion, wo Staatsatheismus herrschte, verfolgt. Zwei Mal kam er ins Gefängnis, einmal für zweieinhalb, einmal für vier Jahre. Im Straflager habe der KGB ihm, wie so vielen anderen, nach dem Leben getrachtet. Er habe sich die Zelle mit einem Mörder teilen müssen, der bereits einen Strick für ihn vorbereitet hatte, erzählt Pauls. Solche vorgetäuschten Suizide habe er in seinem Umfeld mehrfach bei Glaubensbrüdern miterleben müssen. Untätigkeit schwer auszuhalten Die Sowjetunion hörte offiziell am 26. Dezember 1991 auf zu existieren. Schon unter Gorbatschow und erst recht nach dem Zusammenbruch der UdSSR seien seine missionarischen Tätigkeiten, sei die „Verbreitung“ leichter geworden und, wie er sagt, auf fruchtbaren Boden gefallen. In Deutschland angekommen, so klingt es, fiel er dagegen erst einmal in ein Loch. Er hätte sich entschieden, in der hintersten Bank eines Gebetshauses still auf Gottes Botschaft für ihn zu warten. Darauf, dass Jesus kommt. „Ich fand keine Ruhe in dieser Untätigkeit“, erinnert sich Pauls. Doch sie währte nicht allzu lang. Über die Baptistengemeinde in Lage und die Evangelische Schriftenmission Lemgo-Lieme kam er zum Verteilen von Traktaten, jenen kleinen Faltblättern oder Heftchen, die den christlichen Glauben erklären. Immer mehr „Einsätze“, wie Pauls sie bezeichnet, kamen hinzu, in ganz OWL, ganz Deutschland. Auf Marktplätzen etwa hätten sie gesungen, Büchertische aufgebaut, Gespräche geführt. „Ich kann ohne dem gar nicht“, sagt er lächelnd, in seiner weichen, russlanddeutschen Sprechweise. Immer wieder habe Gott ihm Menschen, „Brüder“, an die Seite gestellt. Auch heute noch habe er zwei „Mitarbeiter“, einer von ihnen sei Jude, lässt er fallen. Überhaupt scheint er keine Berührungsängste zu haben. So verstehe er sich sehr gut mit dem Mann, der sich seit dem Sommer an dem leerstehenden Haus an „seiner“ Steinstoß-Straßenecke ein provisorisches Domizil gebaut hat. An den besonders heißen Tagen habe der ihm sogar einen Sonnenschirm über seinem Standplatz installiert. „Er ist so freundlich, begrüßt mich immer. Wir sind befreundet“, sagt Pauls und schmunzelt. „Plakatdienst“ bei jedem Wetter Das, was er als „Plakatdienst“ bezeichnet, begann Pauls vor gut zehn Jahren. „Das ist ja ganz selten in Deutschland“, sagt er. Ein „Bruder“ habe ihm das erste Schulterschild zum Umhängen verschafft. Seitdem sei er unterwegs, um „den Herrn zu verherrlichen und dafür zu sorgen, dass die Menschen sich Gedanken über ihre Rettung machen“. Für Pauls gibt es Himmel und Hölle, Rettung und Verdammnis. Können die Passanten heute mit diesen Begriffen überhaupt noch etwas anfangen? Der frühere Zahnarzt klingt keineswegs resigniert und bejaht. Durch die Konfirmation wüssten viele ja grob Bescheid. Nicht oft, doch immer mal wieder komme es vor, dass Menschen sich an Ort und Stelle zu Jesus bekennen würden, erst kürzlich wieder eine Frau. „Sie war so befreit, so froh – das stärkt mich immer wieder und sorgt dafür, dass ich nicht mutlos werde“. Provokationen prallen an ihm ab Auf Provokationen, meist aus vorbeifahrenden Autos, reagiere er nicht. „Das ist deren Freiheit. Und auch Jesus und die Jünger wurden beschimpft, das ist nichts Neues“, sagt er lapidar. Jesu Botschaft sei ohnehin gewesen, dass man aufpassen solle, wenn alle nur gut über einen sprechen würden – denn das sei nicht unbedingt das richtige Zeichen, erörtert Pauls. Johann Pauls Ehefrau, mit der er inzwischen in Leopoldshöhe in einem Heim für Betreutes Wohnen lebt, ist an Demenz erkrankt. Er kann aus Rücksicht auf sie nur noch an jenen drei Tagen in der Woche unterwegs sein, an denen sie in der Tagespflege betreut werde. Doch ihr Gesundheitszustand lasse auch das oft kurzfristig nicht mehr zu. So wollte er heute eigentlich in Hameln stehen, nicht in Lemgo. Doch so weit habe er sich nicht entfernen wollen. Dass seine Frau heute früh doch noch gegessen habe und er überhaupt hier sein könne: für Pauls eines der zahlreichen kleinen Zeichen und Zuwendungen seines Gottes. Wie lange noch? „Der Herr regelt das Wetter wunderbar“, sagt Pauls und steigt aus dem Auto. Der Regen hat aufgehört, die Pause ist beendet. In all den Jahren habe er es noch nie erlebt, dass er den Dienst abbrechen musste. Er hängt sich seine Schilder um, greift mit der einen Hand das „Jesus-rettet“-Plakat, mit der anderen seinen Gehstock. Die Frage, wann der richtige Zeitpunkt zum Aufhören sei, beschäftige ihn. Doch er werde es schon spüren. Wieder dreht sich Pauls langsam in Richtung Verkehr. Was fehlt den Menschen seiner Meinung nach am meisten? Er sagt: „Dass sie den Frieden Gottes im Herzen finden. Wer den hat, der behandelt auch seine Familie, die Menschen an seiner Arbeitsstelle und die Gesellschaft friedlicher. Dann wird auch das Land friedsam handeln“, ist er überzeugt. Zum Abschied sagt er: „Gottes Segen für Sie.“