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Bosseborn-Prozess: Wilfried W. stellt sich als Opfer dar

Jürgen Mahncke und Jutta Steinmetz

Adrett: Bislang erschien Wilfried W. an allen Verhandlungstagen leger im Sweatshirt oder Pullover vor Gericht. Für seine Aussage hatte er gestern ein weißes Hemd angezogen. - © Marc Köppelmann
Adrett: Bislang erschien Wilfried W. an allen Verhandlungstagen leger im Sweatshirt oder Pullover vor Gericht. Für seine Aussage hatte er gestern ein weißes Hemd angezogen. (© Marc Köppelmann)

Paderborn/Höxter. Monatelang waren dunkle Sweatshirts Wilfried W.s Wahl, wenn er auf der Anklagebank des Paderborner Schwurgerichts Platz nehmen musste. Jetzt erschien der 47-Jährige, der zusammen mit seiner Ex-Gattin Frauen so sehr gequält haben soll, dass zwei von ihnen an den Folgen der Misshandlungen starben, im weißen Oberhemd zur dunkelblauen Jeans. Er wirkt fast ein bisschen aufgebrezelt, als habe er sich extra schick gemacht für diesen 13. Prozesstag, an dem er damit beginnen will, seine Sicht der Dinge zu schildern.

Bislang steht Wilfried W. nach der langen und detailreichen Aussage von Angelika W. als Monster da, als ein böses Ungeheuer, das Frauen in abscheulicher Weise misshandelt, aber vor allem seine Exfrau als Spiritus Rector zu entsetzlichen Taten veranlasst haben soll. Dass das zu "einer neuen, falschen Realität" wird, das wolle er nicht, sagt Wilfried W.. Ihm gehe es jetzt darum, seine "höchst subjektive Sicht zu schildern". Und die unterscheidet sich beträchtlich vom bisher Gehörten.

"Ich bin nicht der Mann, der den Ton angibt", sagt er irgendwann an diesem Morgen mit leiser Stimme, die tatsächlich angenehm klingt - und das, obschon er von seinem Vater erzählen muss, der trank und alle Familienmitglieder schlug, von seiner Schulzeit, in der er wegen seines leichten Lispelns so sehr gehänselt wurde, dass er auf eine Förderschule wechseln musste. Ruhig und ausgeglichen antwortet er auf die Fragen aller Prozessbeteiligten, niemals ist er - ganz anders als Angelika W. - ausschweifend.

Und doch wird klar: Wilfried W. sieht sich als Opfer. Als Opfer schon im Teenageralter, als ihn der Lebensgefährte seiner Mutter sexuell missbraucht haben soll. Aber auch als Opfer von Angelika W.. Mit ihr seien nur die ersten Wochen "super" gewesen. "Dann fing das mit ihrer Wut an", schildert der 47-Jährige das Zusammensein. Sie habe sich nicht mehr für seine Hobbys Tiere, Natur und Autos interessiert, seine Wohnung sei ihr zu klein gewesen. "Ab heute bist du ein Waschlappen und wirst auch so behandelt", habe sie gesagt, ihn oft bedroht, geschlagen und einmal sogar absichtlich einen schweren Unfall gebaut. "Sie ist eine Sadistin", so Wilfried W..

Diese Erinnerungen an die Zeit mit Angelika W. hat er während der vergangenen Wochen aufgeschrieben. Selbst vorlesen kann er die zwölf Seiten nicht, immer wieder versagt seine Stimme. Aber womöglich kommt der ehemalige Förderschüler auch nicht mit den eigenen, tatsächlich etwas wirren Notizen zurecht. Die werden schließlich von seinen Verteidigern Detlef Binder und Carsten Ernst vorgelesen. Keine lästige Pflicht für die Beiden, sondern Teil ihrer Beweisführung. Denn so zeige sich, dass Wilfried W. keine intellektuelle Leuchte ist, sondern "einfach strukturiert. Und dieser Mann soll in der Lage sein, Angelika W. zu sagen, wo es lang geht?", sagt Detlev Binder und lässt seine Zweifel hörbar werden.

Für Angelika W.s Verteidiger Peter Wüller indes ist das Gehörte, aber auch das Gebaren des Angeklagten von der Realität weit entfernt. "Das war Schauspiel", sagt er am Ende des kurzen Prozesstages. Wilfried W. habe sich als hilfloses Opfer dargestellt, "das der omnipotenten Angelika ausgeliefert war. Das nimmt ihm keiner ab", ist er überzeugt. Schließlich lägen Ton- und Videoaufzeichnungen vor, die einen ganz anderen Wilfried W. zeigten. Dieser ziehe sich nämlich hinter einer gewissen Schlichtheit zurück. "Das ist sein Schutzschild. Er schlüpft in Rollen. Heute hat er sich die Rolle des Opfers ausgesucht."

Apropos Opfer: Wilfried W.s Schilderung, als Teenager sexuell missbraucht worden zu sein, war für seine Ex-Frau eine Überraschung. Das jedenfalls sagt Verteidiger Wüller. Niemals, so zitiert er seine Mandantin, habe dieser ihr davon erzählt. "Das war für sie neu."

Das Gericht wird dieses Thema wohl noch öfter beschäftigen. Denn nach zwei Stunden Einlassung erklärte sich der Angeklagte damit einverstanden, sich von dem Regensburger Psychiater Michael Osterheider untersuchen zu lassen - allerdings nur mit Blick auf seine Missbrauchserfahrung. Auf diese Weise könne sein Mandant, der bislang jede psychiatrische Begutachtung verweigerte, möglicherweise zu dem Experten Vertrauen fassen, erklärte Verteidiger Binder. Daraufhin unterbrach das Gericht die Sitzung, um die sofortige Exploration zu ermöglichen.

Am kommenden Dienstag wird Wilfried W. weiter aussagen.

Die Strategien der Strafverteidiger

"Wilfried W. ist gar nicht in der Lage, über Stunden vor dem Gericht zu schauspielern. Alle haben doch gemerkt, wie unsicher er bei seiner Aussage war", beurteilt Strafverteidiger Detlev Binder die Aussage seines Mandanten. Er bezieht sich dabei auf die Schilderung von sexuellen Übergriffen, denen sich Wilfried W. in seiner Jugend ausgesetzt sah und die er mit tränenerstickter Stimme irgendwann abbrach. "Ich bin erleichtert, dass unser Mandant endlich gesprochen hat. Er hat einen guten, authentischen Eindruck hinterlassen, wir sind sehr zufrieden mit dem Verhandlungsablauf."

Peter Wüller, der Angelika W. im Doppelmordprozess vertritt, sieht das ganz anders. "Für meine Mandantin und mich war die Missbrauchsgeschichte, die Wilfried vortrug, vollkommenes Neuland. Dass er Opfer von schlimmsten sexuellen Handlungen wurde, glauben ihm weder meine Mandantin noch ich, das glaubt keiner." Während seiner Aussage hatte sich Angelika W., seine Ex-Frau, immer wieder amüsiert gezeigt. Und auf die Frage von Wüller, ob das der "wahre" Wilfried sei, habe ihm Angelika W. bestätigt, dass ihr Ex-Mann seine Rolle ausgezeichnet spielen würde.

Warum diese unterschiedlichen, absolut konträren Sichtweisen? Peter Wüller versucht, die Aussagen von Wilfried W. als generell unglaubwürdig darzustellen. Denn Wilfried W. bestreitet noch, in jeglicher Form an den Straftaten beteiligt gewesen zu sein. Detlev Binder bezweckt vermutlich, eine schwere Kindheit und eine daraus folgende Traumatisierung seines Mandanten zu zeichnen. Daraus könnte dann eine Schuldunfähigkeit zum Zeitpunkt der Straftaten konstruiert werden.

Bernd Emminghaus, Vorsitzender Richter, wird bewerten müssen, ob Wilfried W. wirklich zum Opfer wurde oder ob es doch nur ein wertloser Versuch des Angeklagten war, mit einem guten Drehbuch seinen Kopf aus der Schlinge einer Sicherungsverwahrung zu ziehen.

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