Herr Middeke, was genau bedeutet eigentlich Medizin 4.0?
HELMUT MIDDEKE: Grob gesagt ist es die digitale Transformation im Gesundheitswesen. Zwei Beispiele: Krankenhäuser sind riesige Betriebe, deren Logistik bereits voll in der Digitalisierung ist und sich dadurch besser strukturieren lässt. Das zweite Beispiel betrifft die medizinische Versorgung. Durch die Digitalisierung kann sie sichergestellt und vielleicht sogar verbessert werden.
Wie soll das aussehen?
MIDDEKE: Der Arztmangel betrifft nicht nur den ländlichen Raum, sondern auch die Stadt. Von dem Modell profitieren gerade chronisch Kranke. Sie können sich mit kleinen Chips oder anderen Geräten selbst überwachen. Bisher mussten sie einmal im Monat zum Arzt. Der Patient wird zur Selbstkontrolle ermächtigt, und per Videosprechstunde bleibt der regelmäßige Kontakt zum Arzt.

Aber damit ist nur chronisch Kranken geholfen, oder?
MIDDEKE: Nein, auch bei den Gesunden, die nur einmal im Jahr zur Vorsorge gehen, ist das Phänomen feststellbar. Ob über spezielle Uhren oder Apps auf dem Smartphone – es findet Selbstkontrolle statt. Zwar eher im Bereich der Vorsorge durch Ernährung oder Bewegung, aber der Hintergrund ist, lange gesund und fit zu sein.
Soll die Videosprechstunde den Arzt ersetzen?
MIDDEKE: Nein. Aber sie kann eine Zwischenlösung sein. Gerade die Mobilität ist ein großes Problem. Über die Sprechstunde per Video kann der Arzt, der seinen Patienten nach wie vor auch persönlich sieht, einschätzen, ob er ihn in zwei Tagen oder drei Wochen sehen muss.
Viele fürchten sich aber vor Datenmissbrauch. Sie nicht?
MIDDEKE: Ich finde, dass die Sorge berechtigt ist. Wobei Google und Apple diese Daten längst besitzen. Ich glaube, das Problem ist das ziemliche Chaos auf dem Markt. Ich kann mir vorstellen, dass es künftig für jede Region ein Angebot gibt, das von niedergelassenen Ärzten, Krankenhäusern und Pflegediensten betreut wird. Wenn es aus einer Hand käme, wären die Gefahren überschaubarer.
Was sind weitere Chancen der Digitalisierung?
MIDDEKE: Einige kennen wir bereits, wie die OP-Roboter. Da sitzt der Operateur vor dem Bildschirm wie vor einer Playstation. Wir wissen, dass das zu besseren Ergebnissen führt.
Und wo liegen Risiken?
MIDDEKE: Ich fürchte den Irrglauben, dass diese Technik Menschen ersetzen könnte. Das ist Quatsch. Der persönliche Kontakt, die Berührung ist einfach essenziell.
Wo steht Deutschland im internationalen Vergleich?
MIDDEKE: Die Literatur sagt, drei bis vier Jahre hinter den führenden Ländern. In China ist die Medizin 4.0 bereits selbstverständlich. Auch in Japan und Skandinavien ist man sehr weit. Ich glaube, soweit sind wir aber nicht hinterher. Vieles ist schon umgesetzt.
Faszination 4.0
Am Mittwoch, 20. September, diskutieren in Bielefeld Experten aus OWL, wie sie das Morgen mit der Digitalisierung gestalten können. Unter anderem werden der NRW-Minister für Wirtschaft, Innovation und Energie, Andreas Pinkwart, und Helmut Middeke dazu referieren.Wo steht das Klinikum Lippe?
MIDDEKE: Wir entwickeln die Digitalisierung im OP und in allen technischen Bereichen weiter. Es sind die selben Themen wie bei den anderen auch. Wir setzen zum Beispiel auf die Zusammenarbeit mit niedergelassenen Ärzten und Pflegeteams und haben das Interesse, so die Versorgung in der Fläche sicherzustellen.
Gibt es diese Zusammenarbeit noch nicht?
MIDDEKE: Bisher gibt es da eine strenge Trennung der Sektoren. Die Verbindung wird über die Digitalisierung kommen. Die Kunst dabei ist, Akzeptanz zu erzeugen.
Was glauben Sie – wann ist diese Zukunftsvision Realität?
MIDDEKE: Ich glaube, innerhalb der nächsten fünf Jahre wird die Digitalisierung das Gesundheitswesen verbessern. Vorher muss es seine Strukturen verändern. Eine Verweigerung werden sich die Patienten nicht bieten lassen.