Bielefeld. Wer Hilfsmittel zur Pflege braucht, hofft auf zwei Dinge: eine unkomplizierte, schnelle Lieferung und ein gutes Produkt. Das gilt bei Inkontinenzvorlagen genauso wie bei Toilettenstühlen und Beatmungsgeräten. Doch es gibt Streit um die Versorgung – gerade mal zehn Monate nachdem das Gesetz zur Stärkung der Heil- und Hilfsmittelversorgung in Kraft getreten ist. Ein Gesetz, das solche Probleme lösen sollte. Der Vorwurf jetzt: Preisdumping zu Lasten der Versicherten.
Drei Krankenkassen müssen sich mit dem Bundesversicherungsamt in Bonn auseinandersetzen – die DAK, die KKH und die Barmer mit Sitz in Wuppertal. Sie haben die Versorgung mit bestimmten Hilfsmitteln wie Stomabeuteln oder Atemtherapiegeräten öffentlich ausgeschrieben – wie es EU-Recht verlangt, so die Kassen. Die Kritik entzündet sich an der Frage, ob der Preis entscheidend war oder auch Qualitätskriterien berücksichtigt wurden.
Letzteres bezweifelt der Northeimer Bundestagsabgeordnete Roy Kühne (CDU). Er hat das Versicherungsamt eingeschaltet: „Bei Hilfsmitteln, die individuell angepasst werden müssen oder einen höheren Betreuungsbedarf haben, darf keine Ausschreibung erfolgen", sagt Kühne: „Das ist nicht im Sinne des Gesetzes." Das Gesetz sieht vor, dass der Preis bei diesen Hilfsmitteln maximal zu 50 Prozent entscheiden darf. Nach Informationen dieser Zeitung heißt es in Schreiben der Kassen aber, dass der Preis zu 80 Prozent den Ausschlag gab.
Die Kassen sagen, der Qualitätsaspekt sei bereits in der Ausschreibung berücksichtigt: „Die Anforderungen liegen über denen der Hilfsmittelrichtlinie", sagt DAK-Sprecher Jörg Bodanowitz. Ziel sei eine Versorgung mit einer mindestens gleichen oder höheren Qualität, als in der Richtlinie festgelegt. Das bezweifeln Kritiker. Sie sprechen von einem Preiskampf, der zu einem Preisverfall führt. Markus Wendler, Inhaber des Hilfsmittelerbringers PVM in Bielefeld, nennt ein Beispiel: „1990 haben wir Toilettenstühle für 550 D-Mark verkauft, heute bekommen wir für einen Fünfjahresverleih inklusive Anlieferung, Abholung und Reparaturen noch rund 70 Euro."
Der Preiskampf führe dazu, dass kleinere regionale Anbieter, die Kunden kurzfristig mit mehreren Hilfsmitteln aus einer Hand versorgen, kaum zum Zuge kommen. Das führe zu Fällen wie dem eines Mannes, der einen speziellen Rollstuhl braucht, aber seit zwei Wochen darauf wartet, weil der Lieferant seiner Kasse in Dortmund sitzt. „Das Pflegeheim hat bei uns angefragt, aber wir können nichts machen. Die Kasse würde nicht zahlen", so Wendler. Gesundheitspolitiker Kühne beschreibt das umgekehrte Prinzip: „Es ist nicht zumutbar, dass jemand von Hamburg nach München fahren muss, weil dort der einzige Leistungserbringer seinen Sitz hat."
Insider berichten, dass manche Ausschreibungspreise unterhalb der Einkaufspreise liegen. Die Firmen verdienen nichts mehr, erweitern aber ihre Marktmacht. Bei den Hilfsmitteln dominieren in Deutschland Anbieter wie Sunrise Medical, Invacare und Drive Medical – allesamt mit Mutterunternehmen im Ausland. Neben Ausschreibungen bleibt den Kassen ein zweiter Weg, den das Sozialgesetzbuch vorsieht: Beitrittsverträge. Darin werden Leistungen und Preise weitgehend festgelegt. Alle Hersteller, die Interesse haben, können zu diesen Konditionen dem Vertrag beitreten, der Versicherte kann zwischen Anbietern wählen.
Christian Hüls, Abteilungsleiter Hilfsmittel bei der Viactiv mit Sitz in Bochum, sagt: „Nur mit mehreren Anbietern ergibt sich ein echter Wettbewerb". Die Betriebskrankenkasse setzt auf Beitrittsverträge und verzichtet auf Ausschreibungen. „Der Versicherte muss die Möglichkeit haben, schlechte Leistung notfalls abzustrafen", sagt Hüls. Das könne er nicht, wenn die Kasse nur einen Leistungserbringer hat. Auch die AOK Nordwest hat reagiert. Seitdem das Gesetz gilt, hat sie keine Ausschreibungen mehr durchgeführt. Sämtliche Verträge sind als Beitrittsverträge verhandelt worden.
Die rechtliche Lage ist unklar. Einerseits sieht die EU Ausschreibungen vor. Andererseits steht im deutschen Sozialgesetzbuch, dass nur ausgeschrieben wird, wenn das zweckmäßig erscheint. Nicht zweckmäßig sei das, wenn der Dienstleistungsfaktor (etwa das Anbringen eines Stomabeutels) höher ist als die Sachleistung. Das Hilfsmittelverzeichnis hilft nur bedingt. Darin sind weder Preise noch Qualitätsstandards formuliert.
Windeln verursachen chronische Wunden
- Auch der Bundesrechnungshof monierte 2016, dass die Versorgungsqualität bei den Ausschreibungen oft zu kurz komme und mahnte an, dass die Kassen ergänzende Anforderungen festlegen und durchsetzen. Der Preis dürfe nicht das alleinige Kriterium sein. Der Rechnungshof wies darauf hin, dass eine unzureichende Versorgung teure Folgeerkrankungen nach sich ziehen könne.
- Ein Beispiel dafür waren minderwertige Erwachsenenwindeln, die 2015 für Proteste sorgten. Ihre Klebeverschlüsse verursachten teils chronische Wunden auf der Haut der Patienten, was langwierige und kostspielige Behandlungen nach sich zog. Der damalige Pflegebevollmächtigte der Bundesregierung, Karl-Josef Laumann, hatte daraufhin die Windeln vom TÜV prüfen lassen.