Bielefeld. Der Clip ist nur wenige Sekunden lang. Ein Schüler läuft durch die Schultoilette und schließt sich hektisch in einer Kabine ein, während eine durchdringende Sirene ertönt. „Achtung, Achtung!“, warnt eine Frauenstimme: „Gefährliche Person im Schulgebäude! Türen verschließen und von den Türen fernhalten!“ Die Kamera wackelt, als der Schüler sich auf die Toilette hockt, damit seine Füße nicht zu sehen sind. Dann endet das Video. Was wie ein dramatisches Dokument eines realen Zwischenfalles an einer Schule wirkt, ist gestellt – und mit immer der gleichen Durchsage und immer der gleichen Sirene unter dem Hashtag #amokalarm dutzendfach auf dem Video-Portal Tiktok zu finden. Einige dieser Videos haben Tausende Likes, wurden also von den überwiegend jungen Nutzern per Klick auf ein Herz mit „gefällt mir“ markiert.Möglicherweise genau so ein Video und vor allem die Aussicht auf zahlreiche Likes könnte vergangene Woche einen Schüler oder eine Schülerin des Helmholtz-Gymnasiums dazu motiviert haben, für ein Fake-Video eine Amok-Ankündigung an eine Toilettenwand der Schule zu schmieren. Die Schulgemeinde hatte in einem offenen Brief den Verdacht geäußert, dass hinter der Tat „Klickzahlen bei Tiktok“ stecken könnten. Und spätestens dann wäre aus dem Video-Spaß auf sicherlich zweifelhaftem Niveau bitterer Ernst geworden.Tanja Reineke, Medienpädagogin beim Bielefelder Jugendring, kennt die Videos mit dem Hashtag #amokalarm. „Es gibt auch Vandalismus-Challenges, bei denen dann gefilmt wird, wie Schulinventar zerstört wird“, sagt Reineke. Diese Fälle seien einige der negativen Auswüchse des Medienphänomens Tiktok, das gerade in Corona-Zeiten bei jüngeren Nutzern enorm an Beliebtheit gewonnen hat.Mutproben, Hasskommentare, Mobbing Neben derartiger Mutproben, die es laut Reineke allerdings auch schon vor Social Media gegeben hat, steht Tiktok auch wegen Hasskommentaren, Cybermobbings oder auch wegen des sogenannten „Cyber-Groomings“ in der Kritik – das Unternehmen hatte deshalb schon mehrfach versprochen, seinen Jugendschutz auszubauen. „Da muss man auf jeden Fall ein Auge drauf haben“, so Reineke. Es gebe aber auch zahlreiche positive und kreative Videos, mit denen sich die Jugendlichen mit Videos präsentieren, etwa mit Gesang oder Tanz. „Solche Plattformen sind eine Möglichkeit zur Selbstdarstellung und um Anerkennung zu bekommen“, sagt die Medienpädagogin.Die Challenges bieten für die Nutzer wiederum die Möglichkeit, mit ihrem Video auf einen beliebten Trend aufzuspringen und mit etwas Glück einen viralen Hit zu landen. „Diese sind in den meisten Fällen einfach nur unterhaltsam und der Content, der die meisten Leute anspricht, wird hier in der Regel auch am erfolgreichsten“, erläutert der Bielefelder Social-Media-Experte Alexander Weber, der unter dem Namen „axlek“ selbst mehr als 19.000 Follower auf Tiktok hat.Je interessanter, witziger oder unterhaltsamer das Video ist, desto wahrscheinlicher werde es, dass es mehr Leuten angezeigt wird. „Das ist besonders für Jugendliche sehr ansprechend“, sagt der 25-Jährige. „Viele verfolgen und idealisieren schon Jahre lang Influencer und Youtuber und haben jetzt die vermeintliche Möglichkeit, selbst einfach über Nacht im Internet bekannt zu werden.“ Dass einige Leute beim Buhlen um Aufmerksamkeit auch auf einen Schock-Faktor setzen, weiß auch Weber. „Das sind allerdings überwiegend Einzelfälle von Menschen, die das Ausmaß von bestimmten Aktionen nicht begreifen.“Dies dürfte auch beim Zwischenfall am Helmholtz-Gymnasium der Fall sein – wenn es sich dabei denn tatsächlich um einen völlig missglückten Tiktok-Stunt gehandelt haben sollte. Nicht nur, dass der Urheber des Graffito seine Mitschüler in Angst und Schrecken versetzt hat: Ihm oder ihr drohen im Zweifelsfall auch massive juristische Konsequenzen. In der Allgemeinen Verwaltungsgebührenordnung des Landes NRW heißt es: „Wer gegenüber einer dritten Person eine Gefahrenlage (z.B. durch mündliche oder schriftliche Ankündigung eines Anschlags oder einer Amoktat) vortäuscht, ist gebührenpflichtig, wenn er damit rechnen muss, dass die Person die Polizei alarmiert.“Da die Schule die Drohung sehr Ernst genommen hat, ist die Polizei alarmiert worden – womit eine Gebühr von bis zu 100.000 Euro erhoben werden kann. „Die Festlegung der Gebührenhöhe muss allerdings in einer Einzelfallprüfung erfolgen“, erläutert Polizeisprecher Fabian Rickel.