Psychisch kranke Geflüchtete: „40 Prozent brauchen eine Therapie“

Bielefeld. Martin Reker leitet die Abteilung für Suchterkrankungen der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie im Evangelischen Klinikum Bethel und hat jahrelange Erfahrung in der Arbeit mit Geflüchteten. Als Facharzt weiß er: Vielen psychisch Kranken wird nicht geholfen. Um Kosten zu sparen.

Herr Reker, die Ereignisse von Solingen, Magdeburg oder Aschaffenburg haben das Sicherheitsgefühl in der Bevölkerung verändert. Bei den Tätern wird nicht selten eine psychische Störung diagnostiziert. Was muss jetzt passieren?

Martin Reker: Die Sorgen der Menschen sind nach den Angriffen verständlich. Die Frage ist, welche Schlüsse wir daraus ziehen, um nicht nur das Sicherheitsgefühl, sondern auch die Sicherheit selbst zu erhöhen. Eine hundertprozentige Sicherheit kann niemand garantieren. Aber was die Früherkennung von psychischen Erkrankungen und posttraumatischen Belastungen betrifft, ist die Antwort klar: Im Grunde müsste man bei jedem einzelnen Geflüchteten, der nach Deutschland kommt, mit einem Screening genau hinschauen: Was hat er oder sie mitgemacht, in was für einer seelischen Verfassung ist die Person und ist sie behandlungsbedürftig? Das passiert aber nicht.

Warum nicht?

Wenn die Geflüchteten Deutschland erreichen, geht es primär um die Klärung der Frage des Bleiberechtes und um praktische Fragen wie Unterkunft und Verpflegung. Das Asylbewerberleistungsgesetz erlaubt anfänglich nur die Behandlung von akuten Krankheitsbildern, für alles andere gibt es zunächst keine Kostenabsicherung. Hinzu kommt, dass psychische Erkrankungen ein Abschiebehindernis sind. Deshalb haben Behörden kein Interesse daran, die Menschen darauf aufmerksam zu machen, damit die das nicht für sich nutzen können.

Aber wie werden diese psychisch erkrankten Menschen denn überhaupt erkannt?

Da es ein initiales Screening auf seelische Erkrankungen nicht gibt, müssen Geflüchtete erst auffällig werden, um einer weiteren Diagnostik und gegebenenfalls einer psychiatrischen Behandlung zugeführt zu werden. Im Alltag heißt das zum Beispiel, dass Betroffene einen Selbstmordversuch begehen, sich selbst verletzen, misstrauisch oder wahnhaft, dann auch angespannt werden, manchmal auch ohne große Ankündigung aggressiv. Dann interveniert das betreuende Umfeld wie etwa die Betreuungspersonen in den Flüchtlingsunterkünften und bringt die Personen zum Beispiel zu uns in die psychiatrische Klinik.

Wie schätzen Sie den psychischen Gesundheitszustand von Flüchtlingen ein, die hier nach Deutschland kommen oder bereits hier sind?

Es gibt schon seit mehr als 20 Jahren wissenschaftliche Untersuchungen zu der Frage, wie häufig psychische Störungen bei Geflüchteten sind, so auch von Frank Neuner, der ein hochangesehener Psychologieprofessor an der Universität Bielefeld ist. Demnach haben 70 Prozent der Geflüchteten Gewalt gegenüber anderen erlebt, 58 Prozent Leichen gesehen, 55 Prozent waren selbst Opfer von Gewalt und etwa 43 Prozent sind gefoltert worden. Bei etwa 40 Prozent der erwachsenen Flüchtlinge lässt sich eine Traumafolgestörung nachweisen. Andere psychische Störungen, die die Flüchtlinge aus ihrer Heimat mitgebracht haben, kommen hinzu.

Warum wird jemand gewalttätig, der selbst Gewalt erlebt hat?

Wir haben es hier in vielen Fällen mit Menschen zu tun, bei denen bei entsprechender Disposition eine von Angst und Unsicherheit geprägte Lebenssituation Wahnvorstellungen fördert. Von außen kann man das in der Regel kaum erkennen. Das kann auch die Idee sein, man sei dazu bestimmt, mit solch gefährdenden Taten die Welt oder sich selbst retten. Auch befehlende, sogenannte imperative Stimmen, können hier handlungsleitend werden. Solche paranoiden Ideen werden umso mehr getriggert, desto mehr Angst diese Menschen haben. Und Flüchtlinge, die über einen sehr langen Zeitraum in Angstzuständen gehalten werden, sind für so paranoide Dekompensationen in besonderer Weise empfänglich.

Sind diese Personen dann potenziell gefährlich?

Wenn diese Traumata oder Störungen nicht behandelt werden, dann schmoren die vor sich hin, und damit gehen Menschen sehr unterschiedlich um. Grundsätzlich kann man sagen: Frauen richten Aggressionen eher nach innen, Männer nach außen. Und wir haben hier in Deutschland die Situation, dass wir junge Männer mit schlimmen Erfahrungen über einen langen Zeitraum in Unterkünften absetzen, die sie nicht verlassen können, ohne Perspektive, ohne Arbeits- oder Beschäftigungsmöglichkeiten, ohne soziale Einbettung, ohne therapeutische Hilfe. Die stehen unter immensem Druck und haben permanent Angst, zurückgeschickt zu werden. Und dann ist das Risiko relativ hoch, dass das an irgendeiner Stelle entgleitet.

Wie kriegt man so etwas mit?

Das kriegt man nur mit, wenn man mit diesen Menschen in Kontakt ist, ihnen nah ist und die Angst nimmt. Was mich so erschüttert: Den einzigen Leuten, die diesen Kontakt in Deutschland haben, der Flüchtlingshilfe, streicht der Bund massiv die Gelder, die Stellen, die Projekte. Da gibt es eine Menge Menschen, die sehr viel Verantwortung auf sich nehmen, damit die Öffentlichkeit nicht gefährdet wird. Diese Kürzungen finde ich verantwortungslos in jeglicher Hinsicht, sowohl im Hinblick auf die Betroffenen als auch für unsere Gesellschaft.

Der Täter von Aschaffenburg war kein unentdeckt psychisch kranker Mann, sondern diagnostiziert schizophren. Wie kann es sein, dass so jemand frei herumlaufen darf?

Wir haben in Deutschland ein sehr liberales Unterbringungsrecht. Die Hürden, jemanden gegen seinen Willen dauerhaft einzusperren, sind extrem hoch. Es müssen qualifizierte Gutachten vorliegen, dass diese Person eine Gefahr für sich selbst darstellt, um eine Zwangseinweisung und eine Zwangsmedikation zu rechtfertigen. Und bei einer Gefährdung von anderen Personen geht das nur, wenn bereits eine Straftat passiert ist.

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Wenn Leute ihr Umfeld bedrohen, haben unser Staat und unsere Justiz sehr große Probleme damit, das zu begrenzen und zu sanktionieren, egal welcher Herkunft diese Menschen sind. Dass Personen dafür wirklich inhaftiert werden, ist eher die Ausnahme, und wenn, dann nur kurz. Die einzige Möglichkeit, jemanden dauerhaft festzuhalten, ist eine Psychiatrisierung des Falles. Eine psychische Erkrankung bietet über das Psychisch-Kranken-Gesetz die Möglichkeit, jemanden wegen einer krankheitsbedingten Fremdgefährdung dauerhaft unterzubringen. Wir nennen das Vorsorge-Inhaftierung. Die gibt es in der normalen Justiz nicht, und auch sie ist zeitlich sehr begrenzt.

Aber es gibt doch Kliniken, in denen Menschen jahrelang sind.

Ja, die Forensik. Hier kann ein Gericht die Unterbringung über ein Sicherungsverfahren dauerhaft und zeitlich unbefristet veranlassen, bis die Betroffenen keine Gefahr mehr für die Gesellschaft darstellen. Diese Kliniken sind aber so überlaufen, dass die Gerichte vorsichtig damit geworden sind, diese forensischen Unterbringungen überhaupt auszusprechen. Und was jetzt gerade in der Migrationspolitik passiert, diese Radikallösungen, bei denen nicht auf den Einzelnen geschaut wird, wird viele Probleme nicht lösen. Es gibt zwei essenzielle Dinge, die Menschen brauchen, um zu heilen: Sicherheit und Respekt.

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