„Es ist fünf vor zwölf“: Inzucht unter Rotwild – Tiere auf Mindener Gebiet stark betroffen

Minden. Rotwild mit deformiertem Unterkiefer oder missgebildetem Schädel – solche Meldungen nehmen in Deutschland zu. Der Grund dafür ist Inzucht, also verwandte Tiere bekommen miteinander Nachwuchs. Laut Untersuchungen soll die Population auf Mindener Gebiet in besonderem Maße von genetischer Verarmung betroffen sein. Sie müsse als bedroht eingestuft werden, meint Prof. Dr. Dr. habil. Gerald Reiner von der Uni Gießen. Was sind die Gründe? Und was sagen heimische Experten dazu?

Die Studie Das Rotwild ist laut Deutscher Wildtierstiftung die größte heimische Hirschart – ein ausgewachsenes männliches Tier kann eine Schulterhöhe von bis zu 150 Zentimetern erreichen und rund 250 Kilogramm auf die Waage bringen. In vielen Bundesländern darf es nur in gesetzlich ausgewiesenen Bezirken leben. Eine Studie der Justus-Liebig-Universität Gießen hat 40 solcher Areale in Hessen und NRW untersucht und zwischen 2020 und 2021 Proben von 2.400 Tieren gesammelt und genetisch untersucht. Darunter waren auch 34 Exemplare aus dem Mindener Rotwildgebiet, wie Gerald Reiner mitteilt.

Das Ergebnis: Minden belegt Platz 4 der untersuchten Gebiete mit der geringsten genetischen Vielfalt. Bei den Inzuchtgraden kamen die heimischen Tiere gar auf Platz 2. Ein Viertel sei davon betroffen, so Reiner. Es bestehe keinerlei Austausch mehr zwischen der Mindener Population und anderen in NRW, nach Niedersachsen sei dieser maximal rudimentär.

Allerdings wurden Tiere aus dem Schaumburger Wald untersucht – etwa 8.100 Hektar umfasst das Rotwildgebiet. Es liegt aber laut Revierförster Steffen Fitzner zum Großteil in Niedersachsen. &bdquo;Nur ein Drittel gehört zum Mindener Land. Das Rotwild kennt keine Ländergrenzen“, meint Fitzner, es zieht also in dem Bereich umher. Er leitet die Kreisrevierförsterei Pollhagen/Hagenburg im Schaumburger Wald und ist zudem Vorsitzender der Rot– und Damwildhegegemeinschaft Schaumburger Wald. Die kümmert sich um die Population, etwa 150 Tiere umfasst sie.

Fitzner haben die Ergebnisse überrascht – auch, weil der geringe Gen-Austausch und seine Folgen lange kein Thema waren. &bdquo;Dem Mindener Rotwild sieht man das nicht an. Es sieht sogar sehr vital aus.“ Auf missgebildete Tiere ist er in seinem Revier noch nicht gestoßen. Dennoch zeigten die genetischen Untersuchungen: &bdquo;Es ist fünf vor zwölf.“

Gründe Aber woran liegt das? Wie so oft, trägt der Mensch eine große Schuld daran. &bdquo;Das grundlegende Problem ist, dass sie immer verinselt sind“, sagt Fitzner übers Rotwild, dem ja Lebensraum zugewiesen wird. Aber vor allem die Landschaftszerschneidung, Autobahnen oder der Mittellandkanal, aber auch Siedlungen schränken die Tiere ein. Selbst wenn sie Richtung Deister zur nächsten Population wollten, sei an der A2 Schluss, meint Fitzner. In NRW müssten sie bei der Partnersuche und damit für einen genetischen Austausch bis in die Senne wandern.

Auch Gerald Reiner sieht die Distanz als Problem: Die nächsten Gebiete seien – mit wenigen Ausnahmen in Niedersachsen – zu weit entfernt, denn mehr als 30 Kilometer Zwischenraum zwischen Nachbargebieten könnten nicht in hinreichendem Maße überwunden werden.

Das heimische Rotwild hat also nur wenig Auswahl bei Fortpflanzungspartnern und zeugt Nachkommen mit Verwandten, die sich genetisch ähnlich sind – zu ähnlich. Das hat Folgen. Missbildungen sind die krasseste Ausprägung. &bdquo;Äußere Anzeichen für Inzucht sind aber nur dann zu erkennen, wenn bestimmte Defektgene vorliegen“, erklärt Reiner. Die kommen aber nicht in allen Populationen vor. Der Universitätsprofessor nennt andere – nicht sichtbare – Zeichen: Probleme mit Fruchtbarkeit, Vitalität, Anpassungsvermögen und Gesundheit können entstehen. Diese blieben allerdings im Wald weitgehend verborgen.

Lösungen Er fordert, den genetischen Austausch zu fördern. Fremde Tiere in die Population zu bringen, habe aber in der Vergangenheit nur in Ausnahmefällen funktioniert. &bdquo;Meist konnten die fremden Tiere nicht ins Brunftgeschehen eingreifen oder waren bis zum brunftfähigen Alter schon wieder geschossen worden. Auch ethisch ist dieser Weg abzulehnen: Noch sind in allen Populationen genügend Tiere mit vernünftigen Inzuchtgraden vorhanden.“

Letztlich müssen die Tiere auf Wanderschaft gehen können. Wildtierbrücken machen das möglich. Eine solche könne man beispielsweise über die A2 Richtung Deister bauen, überlegt Steffen Fitzner. Er geht davon aus, dass eher ein Austausch mit der niedersächsischen Seite passieren würde. Aber solche Maßnahmen seien teuer. Eine andere Möglichkeit: Bei der Ausweisung neuer Flächen etwa für Photovoltaikanlagen müsse berücksichtigt werden, ob sie die oft über Generationen zwischen den Tieren weitergegebenen Routen abschneiden.

&bdquo;Das Thema ist daueraktuell, weil sich die Bedeutung und Erkenntnis langsam ausbreitet und durchsetzt - wie Dominosteine in Zeitlupe“, findet Gerald Reiner. Aktuell fänden Untersuchungen in ganz Deutschland statt. Auch Steffen Fitzner berichtet von einer Studie in Niedersachsen zur genetischen Vielfalt des Rotwilds. Das sei ein erster Aufschlag. Es brauche politische Entscheidungen, um Wechselkorridore zu definieren, auch Jäger müssten ihre Ambitionen zurückstellen, damit ein Hirsch durchziehen könne. &bdquo;Letztlich sind viele Akteure gefordert.“

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