„Ihr wollt nicht sterben“: So läuft das Schießtraining bei der Bundeswehr in Minden ab

Kreis Minden-Lübbecke. Die ersten hörbaren Schüsse des Sturmgewehrs G36 knallen um 9.56 Uhr wie Peitschenhiebe durch den grauen Novembermorgen in der Senne. Dreieinhalb Grad über dem Gefrierpunkt. Es fühlt sich kälter an, als die Stiefel den Schotterweg Richtung Schießbahn zum Knirschen bringen, vorbei an zwei Dixi-Klos und einem Unterstand, rechts davon ein Fahnenmast mit einer roten Flagge. &bdquo;Wenn Sie eine rote Flagge sehen, dann heißt das: Gefahr! Es wird geschossen“, erklärt Oberstleutnant André Burdich kurz zuvor, als der silberne Mercedes Vito mit dezentem Bundeswehrlogo auf dem Parkplatz des Senner Truppenübungsplatzes, an der Schießbahn hinter dem Schlagbaum P59 zum Stehen kommt. Er ist der Pressesprecher des deutsch-britischen Pionierbrückenbataillons 130 aus Minden und sieht jünger aus als 51. Drahtig, glattrasiert, das Haar zurückgekämmt, trägt er Uniform.

Sein voller Name darf genannt werden. Für Wehrdienstleistende, Ausbilder und Offiziere gilt: nur Dienstgrad und Vorname. Gespräche mit den jungen Pionieren in seinem Beisein. Das ist der Deal. Dafür darf die Presse nah heran, um zu verstehen, warum sich junge Männer im Jahr 2025 freiwillig für den Dienst an der Waffe entscheiden. So nah, dass sie eine 11,5 Kilogramm schwere, beschusshemmende Weste mit Flecktarn-Elementen überziehen und sich grüne Schaumstoffstöpsel in die Ohren schieben müssen. Vorschrift. Der Sicherheitsoffizier ist da unerbittlich.

&bdquo;Ja, Sie müssen die formen!“, erklärt er einem Pionier mit Nachdruck, dessen Gehörschutz im Ohr nicht hält. &bdquo;Hab’ ich doch!“, sagt der. &bdquo;Und dann bis ins Kleinhirn!“, fährt der Sicherheitsoffizier grinsend fort. Sie stehen vor dem Unterstand, gleich neben einer großen Ablage, auf der die Munition für das Sturmgewehr G36 in Kisten liegt. 30 Patronen im Kaliber 5,56 mal 45 Millimeter pro Magazin.

Jeder Bundeswehr-Soldat muss das Sturmgewehr beherrschen Vor zwei Tagen hat der Pionier hier mit seinen Kameraden das erste Mal scharf geschossen. Auf Ziele aus Papier, mit der Ordonnanzwaffe der Bundeswehr, dem G36 von Heckler & Koch. Jeder Soldat muss das Sturmgewehr beherrschen können. Er muss es zerlegen und zusammenbauen können, muss wissen, was die Buchstaben am Sicherungshebel bedeuten. &bdquo;S“ für &bdquo;Sicher“ &bdquo;E“ für Einzelstoß. Das &bdquo;F“, der Feuerstoß, wird in der Grundausbildung nicht mehr gelehrt, zu unpräzise, zu viel Munitionsverbrauch in kurzer Zeit. Stattdessen werden mehrere kurze Einzelstöße geübt.

Oberleutnant Jonas, der verantwortliche Leiter für die Ausbildung der Soldaten, ruft zur Übung. Sechs Pioniere verteilen sich von Schießstand 3 bis Schießstand 9 auf der Schießbahn. Alle flankiert von je einem Ausbilder. Sie erkennt man an zwei roten Armbinden, links, rechts. Die Kommandos lauten zum Beispiel so: &bdquo;Zwo Ziele, zwo Mal Einzelfeuer – Feuer!“ Um 10.59 Uhr drücken die Pioniere zum wiederholten Male an diesem Morgen ab und das G36 faucht so laut, dass es in den Ohren zieht. Schuss, Schuss, der Pionier blickt sich um, links – rechts. &bdquo;Kontaktstellung!“, ruft Ausbilder Felix auf Bahn 3, ein 38-jähriger Oberfeldwebel, getrimmter Vollbart, Lachfalten, laute, dunkle Bundeswehr-Stimme.

Der jüngste Soldat ist 17 Jahre alt Er steht eine halbe Armlänge von seinem Pionier und fixiert ihn hoch konzentriert von der rechten Seite. Beugt der Pionier leicht die Knie, weil er in Kontaktstellung vor der Schussabgabe steht, tut er es ihm gleich. &bdquo;Einzelfeuer - Feuer!“ Der Pionier schießt. Zwei Patronenhülsen springen aus dem G36 an Felix’ Weste. Er bleibt ungerührt, scheint sie überhaupt nicht zu bemerken. Dünne Rauchschwaden kommen aus der Mündung. Man riecht nichts, vielleicht liegt es am Nieselregen, der die Kälte noch ungemütlicher macht. Umblicken links, umblicken rechts. Später wird Felix erklären, dass das Umblicken dazu dient, nach seinen Kameraden zu sehen. Wo stehen sie? Sind sie versehrt? Felix hebt die Hand, ruft &bdquo;Sicherheit!“ quer über die Schießbahn, nachdem der Pionier das Gewehr gesichert hat. Die anderen Ausbilder tun es ihm gleich. &bdquo;Übungsende, Trefferaufnahme!“

181.661 Soldaten müssen das G36 derzeit bedienen können. So viele hat die Bundeswehr im Moment, 2035 sollen es 260.000 sein. Dafür hat sich Verteidigungsminister Boris Pistorius mit CDU- und SPD-Fraktion auf einen &bdquo;neuen Wehrdienst“ geeinigt. Der Bundestag hat es am 5. Dezember beschlossen. Stimmt der Bundesrat zu, müssen sich alle Männer, die 2008 geboren wurden, mustern lassen. Die Männer hier hingegen leisten seit dem 1. Oktober freiwilligen Wehrdienst ab, schlafen in Minden zu viert in einer Kaserne und für die Woche in der Senne zu 25 Mann in einer Schlafhalle.

25 Mann? Der Jüngste ist gerade 17 Jahre alt; seine Eltern haben unterschreiben müssen, damit er heute in Uniform auf Papierziele schießen darf: Vierecke mit abgerundeten Ecken, dem menschlichen Oberkörper nachempfunden. Kopf, Brust, Becken, in Zonen unterteilt. Sie sollen die Mitte treffen, damit der Gegner kampfunfähig wird. Bei zwei mal zwei Schüssen heißt das in aller Regel: tot. 750 Schuss pro Minute schafft das G36 – theoretisch, denn die Kurvenmagazine, mit denen die Pioniere heute schießen, fassen nur 30 Patronen. Über einen halben Kilometer Entfernung soll das G36 maximal treffen können.

&bdquo;Ihr wollt nicht sterben!“ Für die Trefferaufnahme – Entfernung jetzt: nur zehn Meter – treten die Pioniere mit ihren Ausbildern vom Schusspunkt zur Zielscheibe vor. Felix gibt dem Pionier Feedback. &bdquo;Die Körperspannung ist vorhanden, die Abläufe sind sicher.“ Mit einem roten Stift macht er kleine Striche an die Löcher in der Zielscheibe; so weiß er in jeder Runde, welche Löcher durch aktuelle Schüsse entstanden sind. Dann geht Felix auf die Beinstellung ein, sagt zu ihm: &bdquo;Ihr müsst das abfedern, eure Beine sind das Einzige, worauf ihr steht.“ Der Pionier nickt. Felix spricht mit einer tiefen Stimme, eindringlich und autoritär, aber nicht unfreundlich. &bdquo;Ersthelfer-Ausbildung hattest du letzte Woche: 5 Liter passen ins Becken!“. Das heißt: Auch die Wirkung von Treffern, die nicht in den Brustbereich gehen, sind häufig letal. Wenn eine Kugel das Becken trifft, verblutet man innerlich. Kurze Sätze, starke Bilder. Zum Schluss sagt er: &bdquo;Und Ihr wollt gewinnen. Ihr wollt nicht sterben.“ Der Pionier nickt.

Felix sticht, das wird auch Pressesprecher Oberstleutnant Burdich auf Nachfrage bestätigen, unter den Ausbildern heraus; &bdquo;insofern, als dass er bereits in einem Auslandseinsatz war“. Das Weitergeben seiner Erfahrung, er ist Zugführer im Bataillon, würde besonders respektiert. Sechs Monate Mali, 2018, zur Absicherung der dortigen Präsidentschaftswahl. &bdquo;Wie gut wir es haben“, habe Felix der Einsatz gelehrt. Später, als sich alle Pioniere um den Schützen an Schießstand 9 tummeln, wird er ein paar vordere von ihnen mit beherztem Druck nach hinten schieben. &bdquo;Sonst steht Ihr gleich vor der Rohrmündung“, sagt er. Kurze Sätze, starke Bilder. Größer als 30° darf der Winkel nicht sein, in dem die Soldaten von der Schusslinie stehen. Wenn ein Pionier das Ziel weit verfehlt, sollen keine Kameraden getroffen werden.

Sie wollen das Land verteidigen können, wenn es nötig ist Es ist Mittag, die Waffen sind bei den Munitionskisten verstaut, einer der Ausbilder hat stets ein Auge auf sie. Florian, 23, und Fabian, 20, sitzen auf einer schmalen Bank im Unterstand auf einem Hügel, einen Steinwurf von der Schießbahn entfernt. Massige Bundeswehr-Rucksäcke verteilen sich auf dem Boden, ab und an hocken Pioniere sich dazu, wenn Übungspause ist. Es ist noch immer bitterkalt, immerhin hat der zwischenzeitliche Nieselregen aufgehört – die Sonne wird kein einziges Mal an diesem Tag durchscheinen. Vor ihrer Grundausbildung in Minden haben Fabian und Flo im Handwerk gearbeitet. Fabian, der den Rest der Truppe mindestens um einen halben Kopf überragt, ist Dachdecker. Flo, kleiner, blond, mit einem Kinnbärtchen, hat als Fachkraft für Metalltechnik am Band Kartoffelroder zusammengebaut.

Beide haben Fußball gespielt, 2. Kreisklasse. Fabian war zuletzt Torwart, davor wie Flo Verteidiger. Nun wollen die beiden ihr Land verteidigen können, wenn es nötig ist. Fabian zockt gerne, am liebsten FIFA oder Call of Duty. Er denkt einen Moment nach. &bdquo;Und Landwirtschaftssimulator“, sagt er dann. Lachen. Wird er gefragt, warum er hier ist, antwortet er: &bdquo;Ich möchte dem Land etwas zurückgeben“, es verteidigen können. &bdquo;Und es ist auch ein sicherer Arbeitgeber, auch wenn es doof klingt“, sagt er.

Über die Hälfte der bisherigen Lebenszeit verpflichtet Flo habe einfach Lust gehabt. Er liebe Sport, erzählt er, nicht nur Fußball, auch Fitnessstudio und Laufen. Der Abwechslungsreichtum bei der Bundeswehr habe ihn gereizt, und auch er sagt: &bdquo;Für mein Land etwas zurückgeben“. Für ihn, den Älteren, ist die Sache klar. Über die Hälfte seiner bisherigen Lebenszeit, 12 Jahre lang, hat er sich verpflichtet. Soldat auf Zeit. Möglicherweise ein Einsatz im Ausland. Angst davor habe er nicht, er mache sich keine Gedanken darüber, was möglicherweise einmal sei. Spricht er darüber, wirkt er bedacht und konzentriert, kein Stück naiv. Auf Nachfrage erklärt Flo aber auch: &bdquo;Wenn ich ehrlich bin, macht das Schießen bisher schon am meisten Spaß.“ Mit dem G36.

Frauen sind an diesem Tag keine auf der Schießbahn, weder als Ausbilderinnen noch als Pioniere. Sie müssen auch mit der Novellierung den Fragebogen zur Wehrerfassung nicht ausfüllen, alles freiwillig. Für Männer nicht. Eigentlich möchte Flo sich nicht äußern zum Geschlechterkampf beim Wehrdienst. Erst, als Oberstleutnant Burdich ihn ermutigt, seine persönliche Meinung wiederzugeben, erklärt, dass er es ungerecht findet. &bdquo;Es geht ja nicht um Wehrdienst. Aber die Musterung ist nichts Schlimmes. Paar Fragen beantworten, ein bisschen Sport.“ Gezwungen werden soll auch ab 2026 noch niemand zum Dienst am G36, bei Flo wäre das ohnehin nicht nötig. Nur seine Mutter habe gefragt: &bdquo;Kann das nicht jemand anders machen?“

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