Olaf Scholz: Plötzlich Kämpfer – ohne Rücksicht auf Verluste

Berlin. In manche Menschen kann sich Olaf Scholz gut hineinversetzen. Er habe viele von ihnen in seinem Leben als Anwalt vertreten, betont der Sozialdemokrat an einem Wahlkampftag im kalten Februar. Arbeitnehmer, die mit Anfang 60 ihren Job verloren und zu Unrecht schlechte Aussichten auf weitere Beschäftigung hatten. &bdquo;Ich finde, wir brauchen einen Mentalitätswechsel in dieser Frage“, ruft er in die Leipziger Veranstaltungshalle und erntet Applaus. Nun, als Kanzler, hofft der 66-Jährige selbst auf Weiterbeschäftigung. Aber den dafür nötigen kollektiven Mentalitätswechsel im Land bis zur Bundestagswahl am Sonntag halten Meinungsforscher für nahezu ausgeschlossen. Scholz nicht.

Es ist die Geschichte eines einst etwas pummeligen, schüchternen Jungen, über den es heißt, er habe schon mit zwölf Jahren angekündigt, dass er Bundeskanzler werden will - und der es 51 Jahre später wurde. Durch Fleiß, Härte, Ausdauer und vermutlich auch Autosuggestion. Obendrein hat er im Wahlkampf 2021 Glück gehabt, weil die Konkurrenz patzte. Die dicken Locken sind über die Jahre einer Glatze gewichen und die Kilos einer schlanken Statur. Aber schüchtern, manche sagen menschenscheu – man kann es schwer glauben -, ist er geblieben. Man wundert sich, wie er trotzdem das Amt errungen hat, in dem es wie in keinem anderen um das Überzeugen von Menschen geht.

Vielleicht deshalb, weil er auf der einen Seite Hemmungen mit Überheblichkeit überspielt und auf der anderen Seite ein selten stark ausgeprägtes Selbstbewusstsein hat. Da ist er sich sicher: Er weiß es besser als die anderen. Manche hält er sogar für blöd. Wie offenbar die Union von Herausforderer Friedrich Merz, weil sie auf eine rechtswidrige schnelle Zurückweisung von Flüchtlingen an der Grenze poche. &bdquo;Warum soll man so doof sein?“, fragt Scholz in einem TV-Duell mit Merz bei ARD und ZDF. &bdquo;Unter meiner Führung“, betont er, habe Deutschland nach Jahren des Ringens in Europa eine Regelung zur Rückführung im Einklang mit dem Recht durchgesetzt. Kurz vor Umsetzung wolle die Union sich aber nicht an das Recht halten. Scholz´ Stimme klingt verächtlich.

Hat Scholz sich überschätzt? Die gut drei Jahre als Regierungschef sind nicht spurlos an ihm vorübergegangen. Er sei Leuten schon oft über den Sinn gefahren, sagen Weggefährten. Das habe seinem Image als Macher aber wenig geschadet. Juso-Chef war er, Generalsekretär, Arbeits- und Sozialminister, Erster Bürgermeister in Hamburg, Bundesfinanzminister, Vizekanzler. Scholz verstehe sich als &bdquo;Krieger“, sagt einer, der ihn lange kennt und schätzt. Der Einser-Abiturient sei sich immer sicher gewesen, dass er alles &bdquo;hinkriegt“. Extrem leidensfähig und tapfer sei er, und loyal. Aber dann, als Kanzler, habe er es nicht &bdquo;hingekriegt“. Vor allem die Krise der irregulären Migration habe er unterschätzt. Kritiker sagen es so: Scholz habe sich überschätzt.

Mit Wehmut denken Sozialdemokraten an den fulminanten Beginn seiner Kanzlerschaft zurück. Nahezu geräuschlos schmiedet er die erste Ampel-Regierung im Bund und verpflichtet die so unterschiedlichen Charaktere von SPD, Grünen und FDP wie Rolf Mützenich, Robert Habeck und Christian Lindner zu einer &bdquo;Fortschrittskoalition“. Aber wenige Wochen später ist der Koalitionsvertrag eigentlich Makulatur, weil Russland die Ukraine überfällt, was sich tiefgreifend auf Deutschland und Europa auswirkt. &bdquo;Zeitenwende“ nennt Scholz den Krieg und hält eine Rede im Bundestag, für die sich selbst die Unionsabgeordneten erheben. Dem 1,70 Meter-Mann gelingt in dieser nie dagewesenen Krise in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg etwas Großes: Er gibt den Menschen Sicherheit. Doch es bleibt eine Momentaufnahme.

Scholz berührt die Herzen der Menschen nie mehr so wie im Februar 2022. Obwohl seine Ampel dafür sorgt, dass die Wohnungen auch ohne Gas aus Russland warm bleiben und die Wirtschaft nicht zusammenbricht. Aber dieses zunehmende Zerbröseln alter Standards – starke Industrie, funktionierende Behörden, pünktliche Bahn – und der endlose Streit in der Regierung untergräbt das Vertrauen in seine Führungsstärke. Im Streit um die Schuldenbremse wirft Scholz im November 2024 Finanzminister Lindner aus der Regierung und ihm schmutzige Wäsche hinterher. Sein Traum von einer Langzeit-Ampel über 2025 hinaus ist jäh geplatzt.

Trotz allem glaubt er weiter an sich – und den Wahlsieg In jenen Tagen wächst in Teilen von Partei und Fraktion die Sehnsucht nach dem in der Bevölkerung beliebten Verteidigungsminister Boris Pistorius als Kanzlerkandidat für die Wahl am 23. Februar. Während Scholz beim G20-Gipfel in Rio ist, blasen Bundestagsabgeordnete aus NRW zum Sturm gegen den Kanzler. Der geht am anderen Ende der Welt für eine halbe Stunde im Dunkeln barfuß durch den Sand an der Copacabana. An seiner Seite Ehefrau Britta Ernst, die ihn auf dieser Dienstreise begleitet. 1998 haben sie geheiratet. Niemandem vertraut er mehr als ihr. Sie ist die Liebe seines Lebens. Kurz darauf erklärt Pistorius, er stehe gar nicht zur Verfügung. Scholz, der Krieger.

Fortan wird er sagen, er gewinne die Wahl, weil die Menschen noch erkennen würden, dass man Merz das Land nicht anvertrauen könne. Er wiederholt das auch an diesem Februar-Samstag in Leipzig. Die Umfragen für die SPD sind schlecht. Die Union erscheint uneinholbar und auch die AfD wird stärker als die Kanzlerpartei eingeschätzt. Unter Sozialdemokraten sinkt die Zuversicht, dass die Aufholjagd wie 2021 gelingt. Dabei jagt Scholz von einem Auftritt zum nächsten. Innerhalb von sechs Wochen hat er neben seinem Regierungsamt mit unzähligen nationalen und internationalen Themen 70 Wahlkampftermine bundesweit.

In normalen Zeiten würde er auf einem Marktplatz stehen. Aber normal ist in diesen Zeiten, in denen in Deutschland Faschismus wieder aufkeimt und die USA mit gemeinsamen Grundwerten brechen, sowieso nichts mehr. Die vorgezogene Wahl erfordert Wahlkampf im Winter und so steht Scholz hier in Sachsen in einer &bdquo;Eventlocation“, im &bdquo;Westbad“. Rund 1000 Menschen sind gekommen, vor allem Genossinnen und Genossen, die klatschen und nicht kritisieren. Gut für Scholz.

Das ist deshalb bemerkenswert, weil er sich in diesem Wahlkampf von einer Seite zeigt, die sich die SPD von Merz erhofft hatte: Er ist reizbar. Scholz haut Sprüche raus, die das vermissen lassen, was er immer verspricht: Respekt. &bdquo;Fritze Merz erzählt gern Tünkram“, ist so eine Reaktion von ihm Mitte Dezember auf die Behauptung von Merz, der Kanzler sei in Europa isoliert. Scholz fühlt sich maßlos ungerecht behandelt. Aber &bdquo;Fritze“ ist noch harmlos. Anfang Februar kann er auf einer großen privaten Geburtstagsfeier nicht an sich halten und beschimpft den schwarzen CDU-Abgebordneten und Berliner Kultursenator Joe Chialo als liberales &bdquo;Feigenblatt“ und &bdquo;Hofnarren“ der Union, die kurz zuvor für verschärfte Migrationspläne ein Tabu gebrochen hat. Erstmals wurde für einen Antrag im Bundestag eine Mehrheit durch die AfD in Kauf genommen. Scholz vergisst sich. Beziehungsweise, dass ein Kanzler immer beherrscht und eben respektvoll auftreten sollte.

Attentate überschatten den Wahlkampf Das Entsetzen der SPD über die Union und Scholz´ Warnung vor einer schwarz-blauen Koalition nach der Wahl treten in den Hintergrund. Scholz wird &bdquo;Rassismus“ vorgeworfen. Man kann ihm einiges vorhalten: Dass 2017 die Krawalle während des G20-Gipfels in Hamburg aus dem Ruder liefen, dass er sich im Cum-ex-Skandal an wichtige Details angeblich nicht erinnern kann, dass er als Finanzminister der Großen Koalition nicht genügend gegen den Reformstau getan hat. Aber auf &bdquo;Rassismus“ gibt es in seiner langen Karriere keinen Hinweis. Auf den Straßen demonstrieren derweil Hunderttausende gegen Rechtsextremismus und die Abstimmung von Union und AfD.

Dann erschüttert das Land wieder ein furchtbares Attentat eines abgelehnten Asylbewerbers. Zehn Tage vor der Wahl fährt ein Afghane in München mit seinem Auto in eine Demonstration und tötet dabei eine Mutter und ihre kleine Tochter. In Aschaffenburg ersticht im Januar ein ausreisepflichtiger Afghane einen kleinen Jungen und einen Mann. Im Dezember rast ein psychisch auffälliger Mann aus Saudi-Arabien mit einem Auto über den Magdeburger Weihnachtsmarkt. Sechs Menschen sterben. Vor den Landtagswahlen im Osten im September ersticht ein Syrer, der längst hätte abgeschoben werden sollen, drei Menschen in Solingen. Und vor der Europawahl im Sommer ersticht ein Afghane in Mannheim einen Polizisten. Wut, Trauer und Ohnmacht in der Bevölkerung wachsen.

&bdquo;Wenn Sie nicht massiv etwas ändern, tragen Sie dann nicht eine moralische Mitschuld an jedem einzelnen Mord, der bisher stattgefunden hat?“, fragt eine Frau aus Solingen Scholz in der ZDF-Sendung &bdquo;Klartext“ am Abend des Anschlags von München. Scholz legt ausführlich dar, was rechtlich möglich ist und welche Gesetze verschärft werden sollen und dass die Täter hart bestraft werden. Aber die Frage nach der moralischen Mitschuld bleibt letztendlich offen. Gibt es eine schwerere Frage an einen Bundeskanzler? An alle Politikerinnen und Politiker, an die Behörden? Zwei Tage später geht Scholz an den Tatort in München. &bdquo;Das ist schon ganz schlimm, was hier passiert ist“, sagt er.

München ist an dem Wochenende Schauplatz der weltweit wichtigsten Sicherheitskonferenz. Der neue US-Vizepräsident J.D Vance wirbt für die AfD. Er möchte Scholz nicht treffen, dafür aber Merz und AfD-Kanzlerkandidatin Alice Weidel. Frankreichs Staatschef Emmanuel Macron reist nicht an, ruft aber zum Ukraine-Gipfel einen Tag später nach Paris. Deutschland unter Scholz erscheint in diesen verstörenden Wendezeiten im Ausland wenig gefragt. Noch eine Woche bis zur Wahl. Am Sonntagabend ist er mit Merz, Habeck und Weidel im TV-Quadrell bei RTL und n-tv. Was schlimmer für sie sei, werden die Vier überraschend gefragt - in der Opposition zu sein oder im RTL-Reality-Format &bdquo;Dschungelcamp“? Dschungelcamp, sagen alle blitzschnell. Immerhin.

Die SPD hat aber gute Chancen, dass sie nicht in die Opposition muss – selbst wenn sich Scholz´ Wahlsiegthese als dramatische Fehlannahme erweisen sollte und ihm keine Chance bliebe, selbst eine Koalition zu bilden. In der Union werben viele für die Roten als kleinen Koalitionspartner. Von Scholz bliebe dann nur im Kanzleramt das Porträt für die Galerie der Bundeskanzler. Er ist es geworden. Und mit 66 wäre Schluss.

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