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„Bullshit“-Vorwurf: Das sind die größten Knackpunkte der Regierungskoalition

Markus Decker, Tim Szent-Ivanyi und Kristina Dunz

„Bullshit“ nannte Arbeitsministerin Bärbel Bas (SPD, l.) die These von Kanzler Friedrich Merz (CDU), man könne sich die Sozialsysteme – hier gemeint vor allem das Bürgergeld – nicht mehr leisten. - © Sebastian Christoph Gollnow/dpa
„Bullshit“ nannte Arbeitsministerin Bärbel Bas (SPD, l.) die These von Kanzler Friedrich Merz (CDU), man könne sich die Sozialsysteme – hier gemeint vor allem das Bürgergeld – nicht mehr leisten. (© Sebastian Christoph Gollnow/dpa)

Erfahrungsgemäß dauert es in Koalitionen wenigstens bis zur Mitte der Wahlperiode, bis die Gemeinsamkeiten aufgebraucht sind und daher der Ton rauer wird. Bei Letzterem ist die schwarz-rote Koalition deutlich schneller: „Bullshit“ nannte Arbeitsministerin Bärbel Bas (SPD) die These von Kanzler Friedrich Merz (CDU), man könne sich die Sozialsysteme – hier gemeint vor allem das Bürgergeld – nicht mehr leisten.

Auch wenn Merz versicherte, nicht jedes Wort auf die Goldwaage legen zu wollen: Das Klima in der Koalition ist angespannt, die Probleme türmen sich. Viel Arbeit für den Koalitionsausschuss, der am Mittwochabend, 3. September, zusammenkommt. Die größten Knackpunkte im Überblick:

Haushalt/Steuern

Die Haushalte 2025 und 2026 sind weitgehend finanziert. In den Folgejahren sieht das aber ganz anders aus: 2027 fehlen 34 Milliarden Euro, in 2028 knapp 64 Milliarden und 2029 schließlich 74 Milliarden Euro. Derart hohe Löcher hat es noch nie gegeben – und das, obwohl die Schuldenbremse für die Verteidigungsausgaben aufgehoben wurde und viele Investitionen über das 500-Milliarden-Sondervermögen finanziert werden. Doch für den sogenannten Kernhaushalt gilt weiterhin die Schuldenbremse, die die Aufnahme von Krediten begrenzt. Tatsächlich sind die Löcher sogar noch größer, weil die zugesagten Steuerentlastungen für kleine und mittlere Einkommen noch nicht berücksichtigt sind.

Bundesfinanzminister Lars Klingbeil (SPD) hat im Haushalt noch einige Löcher zu stopfen. - © picture alliance / Panama Pictures
Bundesfinanzminister Lars Klingbeil (SPD) hat im Haushalt noch einige Löcher zu stopfen. (© picture alliance / Panama Pictures)

Zum Stopfen der Löcher setzt die SPD auf Steuererhöhungen für Spitzenverdiener, was die Union strikt ablehnt. Die Sozialdemokraten hoffen zudem darauf, durch die vereinbarte Reform der Schuldenbremse mehr Spielräume im Haushalt zu bekommen. Die Union bremst hier, sodass eine derartige Reform kaum zu einer stärkeren Entlastung führen dürfte.

Bürgergeld/Rente

Union und SPD haben in ihrem Koalitionsvertrag vereinbart, das Bürgergeld zu reformieren und unter anderem die Sanktionen zu verschärfen. Umstritten ist aber, wie weit die Reform gehen soll und ob sich damit tatsächlich viel Geld sparen lässt – das Bürgergeld kostet derzeit rund 47 Milliarden Euro. Die Union will harte Einschnitte, die SPD allenfalls graduelle Änderungen. Bas hat einen Gesetzentwurf für den Herbst angekündigt, Details aber bisher offen gelassen.

Bei der Rente besteht Einigkeit, die Mütterrente aufzustocken und das Rentenniveau zu stabilisieren. Das verschärft aber gleichzeitig das Problem, dass zur Finanzierung der Rente immer mehr Geld aus dem Haushalt benötigt wird. Derzeit fließt ein Fünftel des Etats in die Rentenkasse, Tendenz steigend.

Krankenversicherung/Pflege

Beide Systeme schreiben hohe Defizite. Erwartet wird, dass die Beträge nach einem Rekordanstieg Anfang 2025 zum Jahreswechsel 2025/26 erneut spürbar angehoben werden müssen. Um das zu verhindern, müsste Gesundheitsministerin Nina Warken (CDU) umgehend Sparmaßnahmen einleiten, was sie aber bisher nicht getan hat.

Nina Warken (CDU) ist Bundesministerin für Gesundheit. - © picture alliance/dpa
Nina Warken (CDU) ist Bundesministerin für Gesundheit. (© picture alliance/dpa)

Sie setzt stattdessen weiter darauf, über die bisher geplanten Darlehen hinaus noch mehr Steuergelder aus dem Haushalt zu bekommen. Das lehnt Finanzminister Lars Klingbeil (SPD) aber unter Verweis auf die Haushaltslöcher ab. Die vereinbarten Reformkommissionen legen erst Ende des Jahres (Pflege) beziehungsweise im Laufe des Jahres 2026 (Krankenversicherung) Vorschläge vor – zu spät, um auf die aktuellen Defizite zu reagieren.

Richterwahl

Nach dem kurzfristigen Nein der Unionsfraktion, die von der SPD vorgeschlagene Juristin Frauke Brosius-Gersdorf zur Verfassungsrichterin zu wählen, hat die Parteispitze einen neuen Vorschlag. Über den Namen soll zunächst im kleinsten Kreis mit CDU und CSU gesprochen werden. Der Koalitionsausschuss wäre dafür geeignet. Angeblich soll es keine aktive Politikerin werden. Alle drei Parteien sind sich einig: Eine Krise um die Richterwahl darf sich nicht wiederholen. Aus der SPD verlautet, sollte sie erneut an der Union scheitern, sei die Koalition in Gefahr.

Die Wahl der insgesamt drei Richter ist eine besondere Herausforderung, weil sie geheim und die Koalition zudem für die nötige Zweidrittelmehrheit auf Stimmen der Opposition angewiesen ist. Grüne und Linke signalisierten zuletzt Unterstützung, AfD-Stimmen wären nicht gebraucht worden. Wie der neue Anlauf durchgesetzt werden soll, ist offen.

Wehrdienst

Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) setzt bei der Gewinnung neuer Soldatinnen und Soldaten bisher auf Freiwilligkeit. - © picture alliance/dpa
Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) setzt bei der Gewinnung neuer Soldatinnen und Soldaten bisher auf Freiwilligkeit. (© picture alliance/dpa)

Beim Wehrdienst ist die Sache koalitionsintern klar – und auch wieder nicht. Das Bundeskabinett billigte zuletzt den Gesetzentwurf von Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD). Er sieht vor, junge Menschen ab 18 Jahren anzuschreiben und ihre Bereitschaft abzufragen, zur Bundeswehr zu gehen. Männer müssen antworten, Frauen können. Aber 2027 sollen Männer auch verpflichtend gemustert werden. Gelingt es nicht, genügend Freiwillige anzulocken, soll die Wehrpflicht mit einem zweiten Beschluss wieder eingesetzt werden.

Merz regte an, später auch Frauen zu verpflichten – wozu eine Grundgesetzänderung nötig wäre. Der Kabinettsbeschluss heißt aber nicht, dass das Gesetz so verabschiedet wird. So fordert Unionsfraktionsvizechef Norbert Röttgen (CDU), in das Gesetz zu schreiben, bis wann welche Ziele erreicht werden sollen.

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