Der Anwalt des durch einen Polizeischuss lebensgefährlich verletzten Mädchens in Bochum wirft den Ermittlern manipulative Darstellung in eigener Sache vor. Die gehörlose Mutter sowie der ebenfalls gehörlose Bruder des Mädchens schilderten die Einsatzsituation demnach ganz anders als die Polizei es in ihrer «aggressiven Pressearbeit» tue, sagte Simón Barrera González der Deutschen Presseagentur.
«Das alles ist ja im Moment noch gar nicht ausermittelt - und trotzdem stellt sich der Innenminister bereits schützend vor die Polizei», kritisiert er. Gemeinsam mit der Staatsanwaltschaft versuche die Polizei mit ihren Aussagen gegenüber Medien, das aus seiner Sicht fragwürdige Narrativ zu prägen, der Beamte habe aus Notwehr geschossen. «So etwas prägt Strafverfahren und nährt gleichzeitig Zweifel an der Objektivität der ermittelnden Behörden», so der Anwalt des Mädchens.
Die gehörlose Zwölfjährige war in der Nacht zum 17. November bei einem Polizeieinsatz in Bochum durch einen Schuss in den Bauch lebensgefährlich verletzt worden. Die Polizisten waren ausgerückt, weil das Mädchen seit Sonntag in seiner Wohngruppe in Münster vermisst wurde und offensichtlich zur Mutter nach Bochum gefahren war. Weil das Mädchen nach Auskunft der Polizei lebenswichtige Medikamente einnehme, hatten vier Beamte an der Wohnungstür der Mutter geklingelt, bevor die Situation eskalierte.
Wie die Familie den Einsatz erlebte
Er habe die Familie inzwischen ausführlich mit Hilfe eines Gebärdendolmetschers befragt, berichtet nun der Anwalt des Mädchens. Mutter und Bruder gaben demnach zu Protokoll, dass die Messer erst in einer Paniksituation ins Spiel kamen, die die Polizei selbst verursacht habe. Zunächst habe die Polizei in der Wohnung den Strom abgedreht. «Sie haben also gehörlose Menschen in dieser Wohnung sozusagen noch zusätzlich blind gemacht», sagt Barrera González.
Als die Mutter dann ängstlich die Tür geöffnet habe, habe man sie mit vorgehaltener Waffe zu Boden gebracht und mit Handschellen fixiert. «Die Polizei hat da aus meiner Sicht einen Zugriff inszeniert, wie man ihn gegen organisierte Kriminalität erwarten dürfte, aber doch nicht um ein vermisstes zwölfjähriges Mädchen zu suchen», so Barrera González.
Die Polizei hatte in ihrer letzten Pressemitteilung berichtet, die Mutter sei fixiert worden, weil sie den Einsatzkräften den Zutritt zur Wohnung versperrte. Als dann die Polizisten die Wohnung betraten, sei das Mädchen aus der Küche gekommen und habe die Beamten mit zwei größeren Küchenmessern angegriffen. Als es sich unmittelbar vor den Polizisten befand, fiel der Schuss. Ein anderer Beamte habe zeitgleich einen Taser eingesetzt.
Angeschossenes Mädchen noch nicht vernehmungsfähig
«Es war aber nach meiner juristischen Bewertung kein unmittelbar bevorstehender Messerangriff», sagt Barrera González. Die Polizei habe jede Möglichkeit des Rückzugs gehabt - diese zu nutzen, gelte umso mehr, weil es sich bei seiner Mandantin um ein Kind handele.
Kritik übt der Anwalt auch an den Aussagen der Polizei zum Gesundheitszustand des Mädchens: «Noch während meine Mandantin im Krankenhaus um ihr Leben kämpfte, hat die Polizei ihren Zustand als "kritisch, aber stabil" bezeichnet». Er wirft der Polizei in diesem Zusammenhang eine Verletzung der Persönlichkeitsrechte vor, gegen die er vorgehen wolle. Das angeschossene Mädchen selbst befinde sich noch auf der Intensivstation und sei noch nicht vernehmungsfähig, so der Anwalt. Um die Privatsphäre seiner Mandantin zu schützen, wolle er nicht näher auf ihre Gesundheit eingehen.
Wie reagiert die Polizei auf die Vorwürfe?
Auf Nachfrage gibt die Polizei an, die Mordkommission habe die beteiligten Zeugen zeitnah nach dem Vorfall polizeilich vernommen. Anders als der Anwalt dies darstellt, seien auch Mutter und Bruder befragt worden. Dabei seien auch Gebärdendolmetscher vor Ort gewesen.
«Wir haben versucht, möglichst objektiv anhand der Spurenlage und der Aussagen aller beteiligten Zeugen zu berichten, was in der Nacht passiert ist», sagte ein Sprecher der ermittelnden Polizei in Essen. Nach Abschluss der noch laufenden Ermittlungen müsse ein Gericht entscheiden, ob das Vorgehen der beschuldigten Polizisten rechtmäßig gewesen sei oder nicht.