Bielefeld. Kinder unter zwei Jahren sollten grundsätzlich nicht außerhalb der Familie in Gruppen betreut werden. Das fordert Rainer Böhm, Kinderarzt und Leiter des Sozialpädiatrischen Zentrums in Bielefeld-Bethel. Laut Böhm ist durch Studien bewiesen, dass eine zu frühe Betreuung bei Kleinkindern zur steten Ausschüttung des Stresshormons Cortisol führt. Folge: die Gefahr erheblicher seelischer und körperlicher Gesundheitsstörungen.
Das Bundesfamilienministerium setzt auf den Ausbau des Betreuungsangebots für Kinder unter drei Jahren. 770 Millionen Euro werden dafür jährlich investiert. Das Ministerium teilte auf Anfrage mit, dass "eine qualitativ hochwertige frühkindliche Förderung positive Effekte auf die psychologische, kognitive und soziale Entwicklung von Kindern" habe. Studien würden das zeigen.
Kritik am System
- Für Rainer Böhm krankt das Bildungssystem an den Effizienzforderungen der Leistungsgesellschaft, besonders dramatisch bei der frühkindlichen Bildung.
- Bildungspolitik müsse soziale und emotionale Aspekte stärker berücksichtigen.
- Böhm befürchtet sonst "leistungsoptimierte, aber instabile Persönlichkeiten".
Der Mediziner Böhm sieht das völlig anders. "Bei der Debatte geht es vor allem um die Bedürfnisse der Erwachsenen, das Wohl der Kinder wird zu wenig berücksichtigt", sagt er. Der aktuelle Stand der medizinischen Forschung belege, dass durch außerfamiliäre Gruppenbetreuung eine "massive chronische Stressbelastung in der hochsensiblen Phase der frühen Hirnentwicklung ausgelöst wird", erklärt der Kinderarzt und -neurologe.
Die körperlichen Folgen seien ein erhöhtes Risiko für Kopfschmerzen, Neurodermitis, Infektionen; die seelischen Langzeitfolgen erhöhte Aggressivität, Bindungsstörungen, Depressionen. Böhm will, dass die Ergebnisse der Studien trotz "Kita-Euphorie" berücksichtigt werden. Kleinkinder dem Dauerstress auszusetzen nennt er "unethisch".
Bielefelds Sozialdezernent Tim Kähler (SPD) ist mit dem Ausbau der U-3-Plätze beschäftigt. 70 Millionen Euro gibt die Stadt dafür jährlich aus. Kähler kennt Böhms Kritik an der Krippenpolitik.
Er widerspricht ihr nicht grundsätzlich, sieht aber Faktoren, die ebenfalls berücksichtigt werden müssten. "Formal gilt: Es gibt einen Rechtsanspruch ab August 2013. Wir sind in der Umsetzungspflicht." Kähler will eine Offensive bei der Qualität. "Derzeit haben wir einen Betreuungsschlüssel von eins zu acht. Möglicherweise sind das noch zu viele Kinder für eine Erzieherin." Weiter verbessert werden müsse zudem die Erzieherausbildung. Wie Kähler setzt Anette Stein, Bildungsexpertin der Bertelsmann-Stiftung, auf Qualität.
Mehr Personal, sehr gut ausgebildet, könnte mögliche negative Folgen für Kleinkinder verhindern. Dem widerspricht Mediziner Böhm. Selbst die beste Kita sei nicht in der Lage, die Krankheitsrisiken auszuschließen. Das habe biologische und psychologische Gründe. "Die schädlichen Auswirkungen gibt es", räumt Stein ein. Allerdings müsse auch erwähnt werden, dass die Studien sich auf Langzeitbetreuungen von bis zu zehn Stunden bezögen. Bei guter Qualität und kürzerer Betreuung seien die medizinischen Rückschlüsse nicht legitim.
"Echte Wahlfreiheit" für Eltern wollen beide. "Dafür sind Informationen über die möglichen Folgen frühkindlicher Betreuung wichtig", sagt Böhm. Wer sein Kind selber betreut, müsse finanziell gefördert werden. Stein fordert statt "sinnlosen" Betreuungsgelds ein familiengerechtes Steuer- und Rentensystem. Was die Frage aufwirft: Wie viel sind der Gesellschaft Kinder wert? Ganz konkret, in Euro.