Lemgo. Zu lang, zu opulent, zu theatralisch!" – diesen Eindruck hatte in Lemgo niemand. So lautete jedoch die Kritik am Karfreitag 1727 in der Thomaskirche zu Leipzig, als Bachs Matthäus-Passion erstmals aufgeführt wurde. Nach 100 Jahren Dornröschenschlaf wurde sie von Mendelssohn erneut wachgeküsst. Fast 300 Jahre nach ihrer Entstehung zählt Bachs Klangdichtung heute zum Wunder abendländischer Musik und berührt die Seelen weltweit. In 68 Sätzen wird der Leidensweg Christi vom Abendmahl bis zur Kreuzigung vertont. Tod und Schmerz verschmelzen in getragener Melancholie und paaren sich mit tänzerischer Freude. Geradezu swingend kamen die rund 200 Musiker bei der Aufführung in St. Marien Lemgo daher: „Kommt, ihr Töchter, helft mir klagen." Das vitale Dirigat von Kantor Volker Jänig motivierte den tänzerischen Gestus und erzielte große Transparenz. Während Jänig in der ausverkauften St.-Marien-Kirche dirigierte, stand einen Tag später Kantor Stefan Kagl am Pult des Herforder Münsters. Die Marienkantorei, die Singgemeinschaft und große Singschule sowie der Herforder Münsterchor mit Kinder- und Jugendchor vereinten sich in wunderbarer Harmonie. Begleitet vom Ensemble für Alte Musik „arcipelago" zog die gelungene Kooperation in den Bann. Das Orchester verlieh der barocken Lautmalerei auf historischen Instrumenten viel Glanz. Rund 170 Choristen beeindruckten mit klaren Konturen und bewältigten Aufgaben, die feurige Schlagkraft bis hin zu rührender Zartheit verlangten. Die Turbachöre erklangen aus dem Stand heraus temperamentvoll und dramatisch. Im Gewitterchor hörte man förmlich die Funken sprühen. Die Choräle strahlten hell befreit von romantisierenden Verschleppungen. Florian Feth hielt als Evangelist den Spannungsbogen. Er sang stets ungemein textverständlich. Seine Freudenkoloraturen brillierten in Leichtigkeit. Er schuf intime Glaubensmomente in lyrischer Expressivität und brachte das Geschehen dynamisch voran. Altistin Vera Alkemade meisterte ihre Passagen in warmer Tongebung. Ihre Arie „Erbarme dich" erklang im Dialog mit der Geige weich timbriert. Sopranistin Uta Singer punktete durch ausdrucksstarke Phrasierungen und vitale Gestaltung. Im Duett harmonierten die Frauen in lyrischem Schmelz, den exakte Choreinwürfe kontrastierten. Bass Jörn Dopfer ermöglichte als Jesus in dezenten Klangfarben dramatische Steigerungen. Der schlank artikulierende Gregor Finke, der nur in Lemgo die Bassarien sang, überzeugte mit lyrischen Qualitäten. Viele Leistungen führten zu einem homogenen und überzeugenden Gesamtergebnis. Der Schlussakkord fiel mit dem Glockengeläut der 9. Stunde, der Todesstunde Jesu, zusammen. Die Hörer warteten dies im Stehen ehrfurchtsvoll ab, bevor sie applaudierten.