Warum es so schwer ist, Systemsprengern zu helfen

Bad Salzuflen. Sogenannte Systemsprenger stellen das Jugendhilfe- und Schulsystem mitunter vor große Probleme. Dabei handelt es sich um Kinder und Jugendliche, für die es bisher oft keine geeigneten Hilfsmaßnahmen gibt. Unter der Fragestellung &bdquo;Was hilft, wenn nichts mehr hilft?“, hat sich Ralf Mengedoth, Leiter der Evangelischen Jugendhilfe Schweicheln, mit dem Thema befasst. Er sprach in der vergangenen Woche auf einer dreitägigen Fachtagung mit mehr als 200 Teilnehmern aus ganz Deutschland in der Konzerthalle, veranstaltet von der Salzufler &bdquo;Schule im Klinikum“ an der Heldmanstraße, die an die Kinder- und Jugendpsychiatrie des Klinikums Lippe angegliedert ist und den Patienten den Schulbesuch ermöglicht.

Herr Mengedoth, der ein oder andere wird sich möglicherweise an den Film &bdquo;Systemsprenger“ erinnern, der 2019 in die Kinos kam. Darin geht es um ein neunjähriges Mädchen, das zwischen Pflegefamilien, Psychiatrie und Heimen hin- und hergeschickt wird. Aufgrund ihrer unkontrollierten Wutausbrüche kommt allerdings keine Institution mit ihr klar. Was genau sind Systemsprenger?

Ralf Mengedoth: Der Begriff ist zunächst mal nur ein Etikett. Es ist keine Diagnose, sondern beschreibt einen Prozess. Dahinter stecken Jugendliche mit oft traumatischen Erfahrungen, denen im Hilfesystem oft nicht geholfen werden kann und aufgrund dessen alle Beteiligten in große Not miteinander geraten.

Wie wird ein Kind zum Systemsprenger?

Ralf Mengedoth: Da muss vieles zusammenkommen. Die Person des jungen Menschen fließt mit rein, aber auch das, was er erlebt hat. Oft sind das schwer auszuhaltende Dinge, das kann auch sexuelle Gewalt sein. Dazu kommt ein Hilfesystem, das nicht immer die passenden Antworten hat. Oft werden die Angebote dann auch abgebrochen, wie es ja auch in dem Film sehr anschaulich gezeigt wird. Jeder Abbruch kann die Problematik verschärfen.

Die Verantwortung hat natürlich nicht das Kind.

Ralf Mengedoth: Nein, es ist das System, das überfordert ist und die Verantwortung hin- und herschiebt und nicht die Antworten auf die Bedürfnisse des Kindes oder des Jugendlichen findet.

Wie äußert sich das Verhalten der auffälligen Kinder und Jugendlichen?

Ralf Mengedoth: Das kann ein Verhalten sein, dass wir erst mal nicht verstehen: Dass man beschimpft wird, dass Vereinbarungen nicht eingehalten werden. Das kann bis hin zu körperlicher Gewalt seitens des Kindes oder des Jugendlichen gehen.

Damit sind sicher auch Schulen oft überfordert?

Ralf Mengedoth: Das ist ganz unterschiedlich und lässt sich nicht pauschalisieren. Es gibt Lehrer, die sehr engagiert sind und versuchen, die Schüler zu erreichen. Aber sicher ist, dass es ein Zusammenspiel von vielen Bereichen geben muss, um den Kindern zu helfen. Dies erfordert neben dem Willen auch schlicht Zeit. Da müssen sich Vertreter von Jugendamt, Mitarbeiter der Einrichtung, in der das Kind oder der Jugendliche lebt, die Therapeuten und im Idealfall auch die Eltern an einen Tisch setzen.

Warum tut sich das Jugendhilfesystem so schwer mit diesen speziellen Fällen?

Ralf Mengedoth: Wie überall ist das natürlich auch eine Frage der Kapazitäten. Das heißt, man braucht genügend und auch gutes Personal. Und um einen Job attraktiv zu machen und gute Leute zu finden, sollte der natürlich auch ganz gut bezahlt werden. Das ist leider nicht immer der Fall. Gerade in der gegenwärtigen Situation, in der absehbar ist, dass der Staat an vielen Stellen sparen wird, ist zu befürchten, dass in naher Zukunft nicht viel mehr Gelder zur Verfügung stehen werden als bisher.

Lässt sich sagen, wie viele Fälle von Systemsprengern es gibt?

Ralf Mengedoth: Nein, da gibt es keine verlässlichen Zahlen. Das lässt sich auch nicht so einfach kategorisieren. Auch, ob es mehr Jungen oder mehr Mädchen betrifft, kann man verlässlich nicht sagen. Mein Eindruck ist allerdings, dass es mittlerweile zumindest mehr Mädchen sind als früher.

Woran liegt das?

Ralf Mengedoth: Da könnte die gesellschaftliche Entwicklung eine Rolle spielen, es gibt zunehmend auch Mädchen, die körperliche Gewalt ausüben, das war früher in dem Maße nicht so.

In welchem Alter befinden sich die Menschen, wenn die Problematik festgestellt wird?

Ralf Mengedoth: Oft ist das zwischen 8 und 16 Jahren der Fall, aber manchmal sind die Kinder auch jünger.

Und die Problematiken – unkontrollierte Wutanfälle und das Nichteinhalten von Regeln – begleiten sie das ganze Leben?

Ralf Mengedoth: Das kann sich mit dem Alter abschwächen, das muss aber nicht sein. Es kann immer wieder Situationen geben, in denen der Betreffende in die Verhaltensmuster fällt, wenn es einen bestimmten Auslöser gibt. Sie müssen sich das so vorstellen: Wenn Sie jemand leicht an der Schulter berührt, werden Sie das wahrscheinlich als freundschaftliche Geste wahrnehmen. Für diese Menschen kann es aber eine Erinnerung an eine ungute Situation sein und sie verlieren die Kontrolle.

Nun nimmt der Film kein gutes Ende. Wie ist es in der Realität?

Ralf Mengedoth: Allgemein kann man das sicher nur schwer beantworten. Ich habe aber ein Beispiel aus unserer Einrichtung. Dieser junge Mann verfällt zwar hin und wieder in alte Muster. Aber mittlerweile hat er eine eigene Wohnung bezogen und geht selbstbestimmt einem Job nach. Solche Beispiele machen Mut.

Persönlich Ralf Mengedoth ist seit 2005 Leiter der Evangelischen Jugendhilfe Schweicheln sowie Lehrbeauftragter der Universität Bielefeld in der Fakultät Erziehungswissenschaft AG 8 &bdquo;Soziale Arbeit“. Er befasst sich in Ausschüssen, Gremien und Steuerungsgruppen mit der Prävention in der Jugendhilfe.

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