Bad Salzuflen. Arthus entspannt sich. Er lässt die tastenden Bewegungen, mit denen Nadine Schremmer in aller Ruhe seinen Rücken entlangfährt und die wie eine Massage wirken, geduldig über sich ergehen. Schremmer ist auf der Suche nach Verspannungen in der Muskulatur, nach harten oder auch warmen Stellen, die auf eine Entzündung schließen lassen könnten. „Arthus zuckt und setzt sich bei mir auf den Schoß, wenn ich etwas ertaste“, erklärt die 29-Jährige. So sagt er mir: „Ja, da ist etwas, da musst du etwas machen.“ Tatsächlich dreht der Hund sich mit einem Mal so, als wollte er den schmerzhaften Bereich besser zugänglich machen. „Er arbeitet mit, denn er weiß, dass es ihm sehr, sehr guttut“, sagt Tanja Göckemeyer, die während der Physiotherapie-Behandlung ihres Hundes neben ihm auf dem Boden des Wohnzimmers sitzt. „Er ist nicht mal böse, wenn es kurz wehtut.“ Die Linderung, die ihm die Termine alle vier Wochen verschafften, sei immens. „Seitdem läuft er wieder viel besser.“ Einst Sporthunden und -pferden vorbehalten Physiotherapie für Haustiere hat sich in den vergangenen Jahren zu einem echten Trend entwickelt. Ihre Wirksamkeit ist vor allem bei Hunden und Pferden durch wissenschaftliche Studien belegt. Immer mehr Tierärzte arbeiten mit spezialisierten Therapeuten zusammen, um Hunden, Katzen und sogar Kleintieren nach Operationen, Verletzungen oder bei chronischen Beschwerden zu helfen. Auch die Zahl selbstständiger Anbieter steigt - allein in Bad Salzuflen fördert eine Google-Suche mehr als fünf Anlaufstellen zutage. Waren gezielte Bewegungsübungen, Massagen oder der Einsatz von Geräten wie dem Unterwasserlaufband früher vor allem Sporthunden und -pferden vorbehalten, werden sie heute zunehmend auch für ältere oder kranke Haustiere genutzt – mit dem Ziel, ihre Lebensqualität zu erhalten oder zu steigern, oft zusätzlich zu einer ärztlichen Therapie. Arthus ist mit 13 Jahren schon ein älterer Hund. Als er zwei war, hatte er einen schweren Unfall, wurde gemeinsam mit seiner Besitzerin von einem Auto angefahren. Die Besitzerin war die Mutter von Tanja Göckemeyer. Die Tochter übernahm den Hund damals. Seitdem ist Arthus auf sie fixiert, folgt ihr überall hin. Lange war nicht klar, wie schwer auch der Hund an den Folgen des Unfalls zu leiden hatte - er war nicht nur verängstigt, sondern hatte auch eine Rückenverletzung, deren Folgen ihn bis heute beeinträchtigen. Dass Arthus von Nadine Schremmer, die ihre Dienste mobil anbietet, in seinem gewohnten Umfeld behandelt wird, ist für Göckemeyer entscheidend. „So ist es viel weniger Stress für das Tier“, findet sie. „Im Körper tut sich etwas“ Selbst als Schremmer eine Schutzbrille für die nun folgende Laserbehandlung am Vorderbein aufsetzt, sträubt der Entlebucher Sennenhund sich nicht. Die Laserstrahlung soll in tiefere Gewebebereiche vordringen und tief sitzende Verhärtungen auflösen. Fünf Minuten lang soll Arthus stillhalten. „Warte, gleich ha’m wir’s“, beruhigt ihn Nadine Schremmer. Und dann: „Super! Fein.“ Arthus steht auf, wedelt, wartet auf sein Belohnungsleckerli. Gleich jedoch, weiß sein Frauchen, wird er sich ausruhen müssen: „Er ist immer todmüde danach.“ Das sei völlig normal und liege daran, dass „im Körper ja etwas passiert“, erläutert Schremmer. So hätten viele Hunde auch einige Tage lang Muskelkater-Symptome. Sie gibt Tanja Göckemeyer noch mit, was sie bei Arthus in dieser Sitzung erreichen konnte. „Das Iliosakralgelenk war leicht fest, und es gab eine Verspannung der Muskulatur zwischen den Schulterblättern“, berichtet sie, während sie Arthus streichelt. Göckemeyer lacht: „Ist ja wie bei mir! Aber er war ja heute früh auch wieder mit im Homeoffice.“ Schremmer packt ihre Sachen zusammen und erwidert: „Wie die Frau, so der Wauwau.“ Kein geschützter Begriff Im Auto zum nächsten Termin bei Kater Herkules erzählt Schremmer von ihrem Werdegang. Nachdem der Traum vom Tiermedizin-Studium platzte - der Numerus clausus liegt hier aktuell bei 1,0 bis 1,5 - machte sie eine Ausbildung zur Tiermedizinischen Fachangestellten, um sich im Anschluss auf eigene Kosten zur zertifizierten Tierphysiotherapeutin und Pferde-Osteopathin weiterbilden zu lassen. Die beiden Kurse fanden an neun beziehungsweise vier Wochenenden online von Samstagfrüh bis Sonntagabend statt, dazu kamen jeweils sechs Wochenenden in Präsenz, danach folgten die Prüfungen. „Tier-Physiotherapeut ist noch keine geschützte Berufsbezeichnung“, sagt Schremmer, die tageweise nach wie vor auch in der Tierarztpraxis angestellt arbeitet. Nicht jeder Anbieter habe ein belastbares Zertifikat, sondern womöglich nur einen Schnellkurs belegt. So jedoch könne man beim Tier viel Schaden anrichten, sagt Schremmer. Dieses Risiko sieht auch die Tierärztekammer Westfalen-Lippe (siehe Infostück unten). Schremmer steigt aus dem Auto. Die nächste Tierbesitzerin, Manuela Vieregge, wartet bereits auf dem Treppenabsatz auf sie. Ihr Kater Herkules durfte vormittags nicht wie sonst aus dem Haus, damit er auch tatsächlich greifbar ist. Der Patient isst „Käserollis“ „Ja, Herkules, ich weiß, du bist so gerne auf dem Arm wie ein Sack Flöhe“, spricht Vieregge dem Kater gut zu, als sie ihn zu Schremmer in die Küche trägt. Das sieben Jahre alte „wandelnde Kraulkissen“ hat sie aus dem Tierheim adoptiert. Über die Vorgeschichte der Findelkatze sei nichts bekannt, allerdings lasse das ausgeprägte körperliche Ungleichgewicht auf Misshandlungen schließen. Warum sie Herkules behandeln lasse? „Ich möchte so lange wie möglich ohne starke Schmerzmittel oder invasive Maßnahmen bei ihm auskommen“, erklärt Vieregge und schiebt Herkules einen „Käserolli“ zu, damit er es sich auf seinem Lieblingsplatz, der Fensterbank, bequem macht. Herkules solle nach seinem schweren Start ein möglichst langes, schönes Katzenleben haben. Vieregge zählt die Fortschritte auf, die innerhalb weniger Anwendungen erzielt worden seien: „Vorher hat Herkules kaum seine Hinterläufe einsetzen können - jetzt springt er auf Bäume oder in einem Satz vom Tisch.“ Da der Kater nun agiler sei, könne er auch sein Übergewicht abbauen, hofft Vieregge. Er spiele inzwischen auch, tolle herum - alles neu. Dass Herkules sich derart kooperativ zeigen würde, war anfangs jedoch nicht abzusehen: Fremden gegenüber eher panisch, habe Schremmer sein Vertrauen gewinnen können. Für eine Katze extrem kooperativ Seitdem arbeitet sie daran, Herkules beim Kraftaufbau im hinteren, schwächeren Körperteil zu unterstützen. „Die Wirbel sind verengt und drücken auf die Bandscheiben, das verursacht Schmerzen. Deswegen ist Herkules so fest im Rücken, da er ihn die ganze Zeit steif macht“, erklärt Schremmer. „Ich entspanne die Muskulatur und versuche, den Druck von den Bandscheiben zu nehmen, damit seine Beweglichkeit immer besser wird.“ Für einen bleibenden Effekt sollte der Kater alle vier bis sechs Wochen behandelt werden. „Nun ist die Katze gleich wieder halb leer“, sagt Vieregge und zeigt auf die unzähligen Haare, die Herkules durch die Anwendung verloren hat. „Deshalb sauge ich vorher nicht“, erklärt sie und lacht. Ob sie dafür kritisiert wird, ihrer Tierheimkatze eine solche „Premium-Behandlung“ zukommen zu lassen? Manche hätten in der Tat wenig Verständnis, räumt Viergge ein, doch das kümmere sie wenig. Als sie in den landwirtschaftlichen Hof ihres Mannes eingeheiratet habe, sei mit den Hofkatzen auch noch ganz anders umgegangen worden - die hätten ja nicht mal ins Haus gedurft. „Heute gehören Haustiere eben zur Familie“, konstatiert Vieregge. „So, diese Stelle kriegen wir noch hin, die habe ich mir extra bis zum Schluss aufgehoben“, kommt Schremmer derweil zum Ende. Herkules, der mit eingerollten Pfötchen dalag, zuckt jetzt, steht auf, dreht sich - springt jedoch nicht von der Fensterbank. „Die Muskulatur ist wieder weich“, lautet Schremmers Fazit. Und Herkules darf endlich nach draußen zischen. Sicherheitsschuhe ein Muss Die nächste Patientin, Friesen-Stute Isa, ist bereits eine alte Bekannte. Beim heutigen Termin in der Reithalle auf Gut Ribbentrup stellt sie sich laut Besitzerin Gina Prüßner jedoch zickig an und dreht sich in einer Tour um, wenn Nadine Schremmer Hand anlegt. „Ja, da ist sie, die gemeine Stelle. Es sind einfach Tiere“, bleibt Schremmer, die jetzt Sicherheitsschuhe mit Stahlkappe trägt, unbeeindruckt. Anhand der Ganganalyse ist ihr sofort aufgefallen, dass Isa erneut eine Schiefstellung aufweist. „Das Becken fällt nach rechts außen runter“, was tatsächlich auch dem Laien ins Auge springt. „Ich schau sie mir von vorne bis hinten durch“, plant Schremmer und zückt ihren Erhebungsbogen. Wenn sie ein Pferd einrenkt, knackt es laut und vernehmlich, während dies bei Hund und Katze aufgrund der kleineren Knochen meist kaum wahrnehmbar ist. Kann sie bei Pferden eine Verspannung lösen, kauen diese oft oder gähnen. „Das sind Entspannungszeichen“, weiß Gina Prüßner. Die Besitzerin hat aufgrund eines Schlaganfalls weniger Kraft in der rechten Körperseite. Dieses Ungleichgewicht übertrage sich auf die 14-jährige Stute, die sie einst auch eingeritten hat. Einen Zusammenhang zwischen Tier und Besitzer herzustellen ist in diesem Fall deutlich mehr als nur dahingesagt. Gerade bei Reiterinnen und Reitern, bestätigt Schremmer, mache es Sinn, beide als Einheit zu sehen - und zu behandeln. Als Schremmer die Stute eingerenkt, die Rückenmuskulatur gelockert und beim Kiefergelenk eine Blockade entfernt hat, ist die Fehlstellung tatsächlich nicht mehr zu erkennen - fürs Erste. In zwei Wochen will Schremmer „nacharbeiten“. Hausaufgaben muss sie Prüßner bis dahin nicht mitgeben - als „Stammkundin“ weiß sie bereits, mit welchen Übungen sie ihrer Stute Gutes tun kann. Schremmer hat nun erst mal Mittagspause - anders als sonst behandelt sie heute nicht bis zu acht Pferde nacheinander. Nach solchen Einsätzen spüre sie ihren Körper. „Dann“, sagt sie und grinst, „müsste ich eigentlich selbst zur Physio.“ Zahlen & Fakten Im Bereich der Tierphysiotherapie gibt es noch keine geschützte Berufsbezeichnung, bestätigt Oliver Bergers, Geschäftsführer der Tierärztekammer Westfalen-Lippe. „Dies ist wie im Bereich der Tierheilpraktiker. Eine Regulierung gibt bedauerlicherweise nicht“, so der Fachmann. Es sei daher ratsam, immer den Tierarzt als ersten Ansprechpartner zu nutzen. „Dieser kann eine fachliche Einschätzung abgeben und die Tierhalter beraten.“ Studien zeigen, dass Physiotherapie bei Hunden nach orthopädischen Operationen (z.B. Kreuzbandriss, Hüftgelenksdysplasie) die Mobilität, Muskelkraft und Heilung verbessert. Auch bei Erkrankungen wie Bandscheibenvorfällen unterstützt laut Studienlage eine gezielte Rehabilitation (z.B. passives Bewegen, Laufbandtraining im Wasser) die Genesung eines Hundes. Die Kosten für eine Behandlung variieren je nach Tiergröße und Aufwand, meist ist bei Hunden im Schnitt mit einem Euro pro Behandlungsminute zu rechnen. Auch wird die Anfahrt oft gesondert berechnet. Bei klarer medizinischer Indikation (z.B. postoperativ) kann der Tierarzt eine Überweisung oder Empfehlung schreiben, was hilfreich für die Abrechnung bei einer Tier-Versicherung sein kann, wenn man diese denn abgeschlossen hat.